Mittwoch, 2. Oktober 2013

"Teambuilding"

Immer wenn sich eine Gruppe von Menschen trifft, sei es, um zusammenzuarbeiten oder zu lernen, um gemeinsam zu musizieren oder Sport zu machen, ensteht natürlicherweise eine bestimmte Gruppendynamik. Meist kristallisiert sich schon nach kurzer Zeit heraus, wer in der Gruppe welche Rolle einnimmt. Jedes Gruppenmitglied bringt eigene Vorstellungen und kulturelle Prägungen mit und hat eine bestimmte Erwartungshaltung an die Gruppe. Daraus entwickeln sich Umgangsformen und "Spielregeln". Diese werden zum Teil beeinflusst durch Regeln, die der jeweilige Kontext vorgibt (z. B. in der Schule pünktliches Erscheinen, keine Gewalt, Erledigen von Hausaufgaben etc.), darüber hinaus passiert aber vieles im Verborgenen und ohne, dass es je in der Gruppe thematisiert würde.

Nicht anders ist es natürlich bei unserer Gruppe von zehn Fellows. Ich habe diesen Prozess der Gruppenzusammenführung noch nie so bewusst vollzogen wie hier und zugleich finde ich, dass er uns besonders gut gelungen ist. Deshalb möchte ich hier die vier Punkte zusammenfassen, die meiner Ansicht nach für diesen Erfolg verantwortlich sind:

1.) Sensibilisierung: Unsere beiden Leiter Heath und Virginia haben uns von Beginn an für diese Gruppenprozesse sensibilisiert und uns ans Herz gelegt, sehr respektvoll und sorgsam miteinander umzugehen, da wir in den nächsten neun Monaten jeden Tag viele Stunden auf engem Raum miteinander verbringen werden.
2.) Offenheit aller Gruppenmitglieder: Alle Fellows waren von vornherein sehr aufgeschlossen und interessiert. Uns eint natürlich eine gemeinsame Leidenschaft, andererseits haben wir aber alle einen ganz unterschiedlichen akademischen Hintergrund und Erfahrungshorizont aus fünf verschiedenen Kontinenten. Es ist also unvermeidlich, dass wir immer wieder große Unterschiede feststellen. Bisher schaffen wir es sehr gut, damit konstruktiv umzugehen. Zur Offenheit gehört außerdem, dass wir klar sagen, was wir wollen und was uns stört.
3.) "Coaching": Wir hatten nach zwei Wochen einen Workshop mit zwei professionellen Coaches. Dabei haben wir unter anderem über zwei verschiedene Arten des Zuhörens gesprochen und diese geübt. Bei der ersten bezieht man alles, was der andere sagt auf sich selbst und stellt Vergleiche mit seinem eigenen Leben an; bei der anderen versetzt man sich ganz in den anderen hinein und versucht seinen Gedankengang aus dessen Perspektive nachzuvollziehen. Ich fand es ganz hilfreich, mir diese Unterscheidung mal bewusst zu machen. Beide Arten sind gut und wichtig, aber manchmal neigt man dazu, eine überzubetonen und die andere zu vernachlässigen. Noch wichtiger fand ich aber der Teil, in dem wir über unsere Gruppendynamik gesprochen haben und darüber, ob sich jeder in der Gruppe gut aufgehoben und respektiert fühlt. Als Resultat des Workshops haben wir in einem Treffen zu zehnt Vereinbarungen zu unserem Umgang miteinander beschlossen. Klingt nach Selbsthilfegruppe, ist es vielleicht auch, war in jedem Fall sehr fruchtbar!
4.) Gemeinsames Musizieren: Wir haben uns schon mehrfach gegenseitig Lieder und Tänze beigebracht. Voraussichtlich noch in dieser Woche werden wir auch endlich anfangen, Kammermusik zu machen. Gemeinsam schöpferisch tätig zu sein verbindet einfach doch viel stärker als alle Seminararbeit oder Diskussionen!

Ich finde bemerkenswert, wie harmonisch unsere Gruppe funktioniert und bin zuversichtlich, dass das dank der genannten Punkte so bleiben wird. Meinem Eindruck nach, haben sie nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Einstellung zueinander von Grund auf so positiv beeinflusst, dass wir möglicherweise entstehende Konflikte gut werden meistern können. Ich würde mir wünschen, dass alle Gruppen so bewusst und gut zusammenwachsen könnten. Das würde die Zusammenarbeit von Kindern in der Schule, Studierenden in der Uni, Erwachsenen im Berufsleben usw. wahrscheinlich sehr erleichtern.

In den letzten drei Wochen haben wir viele interessante Musik- und Kunstprojekte in Boston besucht. Auch hier spielte "Teambuilding" eine wichtige Rolle, versuchen doch viele von ihnen, mit künstlerischen Aktivitäten eine starke Gemeinschaft zu schaffen. Wir waren an einem Vormittag in der Boston Arts Academy, einer Highschool von der 9. bis zur 12. Klasse. Die Schüler kommen hierher, nachdem sie eine künstlerische Aufnahmeprüfung für einen der vier Bereiche Tanz, Musik, Bildende Künste oder Theater gemacht haben. Ihre Schulnoten spielen dabei keine Rolle. So vereint die Schule Jugendliche aller sozialen und kulturellen Hintergründe. Die Schüler haben jeden Tag zwei Stunden Unterricht bzw. Proben in ihrem jeweiligen künstlerischen Bereich. Mir hat sehr gut gefallen, dass hier verschiedene Künste zusammengeführt werden und Raum für spartenübergreifende Projekte schaffen. Zwei der anderen Fellows waren an einer ähnlichen Schule in Baltimore, an der man sogar fünf Stunden künstlerischen Unterricht pro Tag hat und nur vier Stunden in den sonstigen Fächern. Ich würde gern mal über einen längeren Zeitraum beobachten, wie sich solche Programme auf das Sozialverhalten der Schüler auswirken und ob die Jugendlichen dadurch tatsächlich teamfähiger, engagierter usw. werden, wie wir uns das erhoffen.

Ein weiteres Highlight war der Besuch von Lorrie Heagy aus Juneau, Alaska. Sie war im ersten Fellows-Jahrgang 2010 und hat danach das Sistema-inspirierte Musikprogramm JAMM an einer Grundschule in Alaska aufgebaut, wofür sie wurde bereits mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde. Sie hat mit uns mehrere Workshops gemacht und wir durften sie in verschiedene Schulen begleiten und beim Unterrichten zugucken.
 Lied zum Kennenlernen der Geige für
Erstklässler (Foto von Eriel Huang)
Lorrie Heagy mit Erstklässlern in der Boston
Bridge Charter School (Foto von Eriel Huang)



 Besonders bewundernswert fand ich, dass sie es geschafft hat, alle Rückmeldungen und Anweisungen positiv zu formulieren. Das wurde mir zwar in vielen Pädagogik-Seminaren als gut verkauft, ich habe aber nie einen Lehrenden gesehen, der das konsequent in die Tat umgesetzt hätte. Anstatt ein Kind zurechtzuweisen, weil es schief und krumm sitzt, lobt Lorrie zum Beispiel ein Kind daneben für seine gute Haltung - und binnen weniger Augenblicke richtet sich das andere Kind wie durch Geisterhand auch auf. Und anstatt zu schimpfen, dass schon wieder so viele Kinder unruhig sind, lobt sie unentwegt diejenigen, die sich ruhig melden und warten, bis sie an der Reihe sind. Ich konnte kaum glauben, wie ruhig und engelsgleich die Kinder in durchweg allen Gruppen dank dieser freundlichen und bestärkenden Pädagogik waren. Gleichzeitig leuchtet es jedem ein, dass man viel eher bereit ist, gut mitzuarbeiten, wenn man gelobt wird, als wenn man ständig getadelt wird.

Zu guter Letzt noch eine ganz spezielle Art des "Teambuildings". Letztes Wochenende bin ich für drei Tage nach Deutschland geflogen, um der standesamtlichen Hochzeit meines lieben Bruders Alexander und seiner Frau Nadja auf einem Gut in der Nähe von Rostock beizuwohnen. Bei herrlichem Wetter haben wir gemeinsam mit meinen Eltern, der Familie von Nadja und meinem kleinen siebenmonatigen Neffen Carlchen zwei wunderschöne Tage verbracht. Die Reise war auch sehr strapaziös und hat mir eine ordentliche Erkältung eingebracht, aber trotzdem habe ich meinen kurzen Heimaturlaub sehr genossen. Ganz nebenbei konnte ich so auch noch einige Packungen Schwarzbrot und Müsli hierher schmuggeln und bin nun noch einige Wochen vor Weißmehlpampe und Cornflakes sicher (wie man sieht, muss ich in puncto Ernährung noch an meiner Offenheit gegenüber dem hiesigen Angebot arbeiten ...). :-)

Bis zum nächsten Mal!
Eure Tatjana