Montag, 11. November 2013

Musikleben in Boston und in den Amerikas

Seit dem letzten Blogeintrag sind schon einige Wochen vergangen. Inzwischen war ich mit den Fellows eine Woche in Chicago, wo wir an der Conference for Community Arts Education teilgenommen haben und natürlich auch ein bisschen Zeit für Sightseeing in dieser architektonisch faszinierenden Stadt am Lake Michigan hatten. Außerdem haben wir uns viele weitere inspirierende Musik- und Kunstprojekte in und um Boston angeschaut. Abgesehen davon nehme ich im Moment besonders viel aus dem Public Speeching-Seminar mit dem Hochschulpräsidenten Tony Woodcock mit, sowie aus den Strategic Planning-Stunden mit einem „Unternehmensberater“ für Kultureinrichtungen. Im Rahmen dieses Kurses erarbeiten wir im Laufe des Jahres einen Plan für einen möglichen „Núcleo“ (so werden Sistema-Projekte genannt). Einige Fellows haben vor, nach diesem Jahr, ein neues Projekt zu starten. Ich möchte nach Peru gehen und überlege daher, wie man die Arbeit von Arpegio verbessern könnte. Einige Elemente unseres Núcleo-Plans sind Mission, Vision, Werte, Zielgruppe, pädagogisches Konzept, Finanzierung und Evaluationsmöglichkeiten.
Chicago vom Wasser aus
Mein Lieblingshochhaus: das 262m hohe "Aqua", gebaut von einer weiblichen Architektin!

Pumpkin Carving Party kurz vor Halloween
Heute möchte ich aber vor allem über meine Eindrücke vom hiesigen Musikleben berichten.
Ich war schon vier- oder fünfmal bei Konzerten des Boston Symphony Orchestra (BSO). Das Orchester gehört zweifellos zu den Spitzenorchestern in den USA und auf der Welt, aber so richtig vom Hocker gerissen hat mich keines der Konzerte. Ich habe das zunächst darauf zurückgeführt, dass ich schlechte Plätze hatte – das ist in der Symphony Hall kein Kunststück; der Saal schaut zwar sehr prächtig aus, aber egal, wo man im Parkett sitzt, sieht man nur die erste Reihe der Musiker, weil es keine Podeste für die hinteren Spieler gibt. Im hinteren Bereich des Parketts ist der Genuss auch noch akustisch eingeschränkt, weil man dann den Balkon über sich hat. Beim letzten Konzert saß ich aber ganz vorne im ersten Rang und konnte nun aus der Nähe das wahrscheinlich eigentliche Übel begutachten – die Musiker sitzen auf ihren Stühlen wie angegossen. Selbst die Stimmführer und Solobläser bewegen sich fast gar nicht. Gerüchteweise habe ich gehört, dass in den Verträgen der Musiker steht, dass sie sich nicht bewegen dürfen... Aber schlimmer als das fand ich an besagtem Abend, dass die Musiker dermaßen gelangweilt dreingeschaut haben – und das bei  Mahlers „Lied von der Erde“ unter Daniel Harding! Ich habe schon von vielen Musikern hier gehört, dass sie das Orchester nicht mögen, weil sie sehr konservative Programme haben und unmotiviert spielen würden; da ich die technische Qualität und den Klang (besonders vom Blech!) bei den ersten Konzerten aber ziemlich toll fand, bin ich trotzdem weiter in die Konzerte gegangen, aber dieser Abend hat mir den Rest gegeben. Das war der Inbegriff von steifem und unpersönlichem klassischen Symphoniekonzert ohne Leidenschaft und Esprit. 

Das New England Conservatory (NEC) wirbt einerseits damit, einen Großteil der Nachwuchsmusiker für das BSO auszubilden und bewegt sich damit ganz auf den traditionellen Konservatoriumspfaden, andererseits gibt es aber auch ein großes Jazz-Department und ein kleineres für „Contemporary Improvisation“. Außerdem gibt es ein großes Angebot im Bereich „entrepreneurial musicianship“. Zwei Konzerte, die ich in den letzten Wochen besucht habe, und dich mich sehr viel mehr berührt haben als die Symphoniekonzerte, sind dafür repräsentativ:

Das erste war ein Hauskonzert bei einem venezolanischen Cellisten, der sich ein paar Tage zuvor mit uns getroffen hatte, um uns seine sehr bewegende Lebensgeschichte zu erzählen. Er hat zusammen mit seiner Frau, einer halb indisch halb japanischen Sängerin, und einer weiteren US-amerikanischen Sängerin (alle drei NEC-Alumni) ein Trio (Voci Angelica Trio) gebildet, das Volksmusik aus aller Welt aufführt. Dabei singen meistens die beiden Damen und alle drei begleiten mit allen möglichen Schlag- und Zupfinstrumenten sowie Cello.  In ihren Moderationen stellen sie Verbindungen zwischen den verschiedenen Kulturen und ihren Traditionen und Geschichten her und erzählen von ihren persönlichen Verbindungen mit den Stücken. Die musikalische Darbietung war auf höchstem Niveau und der ganze Rahmen als Hauskonzert mit Essen und Trinken war sehr einladend und familiär.

Das zweite war ein Abend mit einem ganz tollen Geiger, Studenten von Donald Weilerstein, und dessen Klavierbegleiter mit rein französischen Programm. Der Geiger hatte dafür ein Programmheft erstellt, in dem er hervorragende, selbst geschriebene Einführungstexte zu den Stücken mit Werken französischer Maler kombinierte. Obwohl ich nicht mit dem Geiger gesprochen habe, hatte ich das Gefühl, eine persönliche Verbindung mit ihm herzustellen – seine Beziehung zu den Stücken und den Prozess des Erarbeitens sowie seine Gedanken über den Rahmen dieser Stücke hinaus. Ich saß nicht mit kritischem Ohr da (was macht er falsch, wie ist seine Technik, wie ist seine Intonation, spielt er musikalisch, ...) – all die Dinge mit denen wir im Instrumentalunterricht aufgewachsen sind – sondern ich fühlte mit ihm die Begeisterung für diese Stücke, die er im Programmheft zum Ausdruck gebracht hatte. Warum ist uns Musik so wichtig? Weil wir uns mit ihr ausdrücken können. Musikmachen ist emotional und persönlich. Aber gerade die persönliche Komponente geht im klassischen Musikbetrieb meiner Ansicht nach allzuoft unter. Es geht darum, diesen genialen Komponisten gerecht zu werden und damit ist man meistens zum Scheitern verurteilt. Dieser Geiger hat an diesem Abend auch phänomenal gespielt, aber selbst wenn nicht, hätte ich es ihm nachgesehen, weil er sich im Vorfeld viele Stunden Zeit genommen hat, um seine Gedanken und Gefühle zu den Stücken aufzuschreiben und mit dem Publikum zu teilen.

Das einzige reguläre Seminar, das ich hier am NEC besuche und das nicht exklusiv für uns Fellows ist, ist eines über die Geschichte klassischer Musik in Lateinamerika seit Beginn der Kolonialisierung. Der Dozent ist ein deutsch-venezolanischer Musikwissenschaftler und Gitarrist. In diesem Semester haben wir uns mit der Entwicklung in den verschiedenen Regionen bis ins 19. Jahrhundert beschäftigt. Ich wusste zwar aus Begegnungen mit zwei bolivianischen Barockensemblen aus ehemaligen Jesuitenzentren, dass klassische Musik nicht erst im letzten Jahrhundert in Lateinamerika gelandet ist, aber ich war dann doch ziemlich platt angesichts der Vielfalt von klassischen Komponisten und der Qualität ihrer Kompositionen. In allen lateinamerikanischen Ländern gab es Orchester und Kompositionsschulen. Einige Stücke ähneln denen zeitgenössischer europäischer Komponisten, andere sind eine Kombination aus europäischer Tradition kombiniert mit einheimischen Elementen. Hier einige meiner Favoriten bzw.:
Wie ihr seht, gibt es abseits des Standardrepertoires noch viel zu entdecken!
Ich setze meine Entdeckerfreude morgen fort - um 16.45 Uhr steigen wir in den Flieger nach Venezuela, wo wir in den nächsten vier Wochen in die Arbeit von El Sistema eintauchen werden. Wir werden mehrere Núcleos besichtigen, bei Unterricht und Proben zuschauen und wohl auch selbst eifrig mitspielen und -arbeiten dürfen. Ich bin schon sehr aufgeregt und freue mich darauf, meine Erlebnisse mit euch zu teilen! Bleibt offen für euch noch unbekannte Musik und neue Unterrichts- und Veranstaltungsformen! :-) Dazu fällt mir gerade noch ein Spruch ein, den ich hier schon häufiger gehört habe und den man auch auf andere Bereiche des Lebens übertragen kann: "Ein Fremder ist ein Freund, den ich noch nicht kennengelernt habe".

P. S. Weitere Fotos findet ihr bei Facebook.