Wieviele von uns haben im täglichen Leben Kontakt zu Menschen mit Behinderung? Wievele von uns haben schon mit solchen zusammen musiziert? Wie oft empfinden wir nur Mitleid für diese Menschen und wie oft Respekt und Anerkennung? In Deutschland gibt es immer mehr Bemühungen, inklusiv zu sein und schon in den Schulen alle zu integrieren, es gibt viele Behindertenwerkstätten und andere Einrichtungen, in denen diese Menschen ernst genommen werden und eine sinnvolle Beschäftigung finden. Auf musikalischer Ebene gibt es spezialisierte Musiktherapie-Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen.
Ist aber auch schon mal jemand auf die Idee gekommen, dass Menschen mit Behinderung nicht musikalisch "therapiert" werden müssen, sondern genauso wie alle anderen zusammen lernen und musizieren können? Dass es unter ihnen genauso musikalisch hochbegabte gibt? Vielleicht kenne ich die deutsche Musiklandschaft nicht gut genug, vielleicht tue ich ihr Unrecht, wenn ich sage, dass zu viel therapiert wird und Menschen mit Behinderung nur mit Mitleid begegnet wird. Ich bin in Deutschland zumindest noch keinem begegnet, der mit so viel Ernsthaftigkeit und auf so hohem Niveau mit Menschen mit Behinderung musiziert wie im Programm für "Eduación especial" in Venezuela. Es steht sinnbildlich für die Philosophie von Sistema: Vertraue in die Fähigkeiten des Kindes, arbeite jeden Tag auf hohem künstlerischem Niveau mit ihm und setze auf die starke Gruppendynamik des Ensembles!
Beginn im Konservatorium von Barquisimeto im Jahr 2000
Gesangsquintett Lara Somos |
Im Konservatorium von Barquisimeto hat Jhonny Gómez auf Bitte José Antonio Abreus im Jahr 2000 angefangen, spezielle Ensembles für Kinder und Jugendliche mit Behinderung einzurichten. In Venezuela gab und gibt es nur sehr wenige Förderprogramme und spezialisierte Schulen für Blinde, Gehörlose, Kinder mit Down-Syndrom oder Lernschwierigkeiten, Autisten etc.. Die Idee der "Educación Especial" ist, mit diesen Kindern intensiv auf künstlerisch hohem Niveau zu arbeiten, ihnen die medizinische und persönliche Betreung zu bieten, die sie außerhalb nicht bekommen (können) und sie in die Gemeinschaft des Konservatoriums zu integrieren.
Glockenensemble |
Die Kinder proben drei- bis fünfmal pro Woche. In den Ensembles singen und spielen oft auch Geschwister, Eltern oder andere Betreuer der Kinder mit. Außerdem gibt es immer mehr Kinder ohne Behinderung, die sich für diese Ensemble anmelden, so dass es inzwischen für die großen Ensembles eine Warteliste gibt. Neben Flöten- und Schlagzeuggruppen gibt es auch mehrere Glockenensemble (hier mit dem Pachelbel Canon). Es gibt mehrere spezialisierte Ärzte, die im Konservatorium nur für diese Kinder da sind. Die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen sind omnipräsent, so dass auch diejenigen, die nicht im direkten Kontakt zu den Spezialensembles stehen, gewohnt sind, mit ihnen umzugehen und sie als selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft zu verstehen.
Coro de Manos Blancas
Als der "Chor der weißen Hände" gegründet wurde, wollte man vor allem den Taubstummen die Möglichkeit geben, Teil eines musikalischen Ensembles werden zu können. So teilte man den Chor in zwei Hälften: die eine Hälfte singt und die andere interpretiert den Text mit weißen Handschuehen in Gebärdensprache. Inzwischen vereint der Chor über 100 Menschen mit diversen Behinderungen sowie einige ohne Behinderung. Der Chor war eines der venezolanischen Ensemble, das bei den Salzburger Festspielen (in der teuersten Preisklasse) aufgetreten ist. Hier ein Video von "El Gavilán" aus dem Festspielhaus und eine Dokumentation über den Chor und seine Reise nach Österreich. Wir waren bei der Präsentation des Chores zu Tränen gerührt - so wie wohl fast alle Besucher vor uns auch. Wir bedankten uns beim Chor mit einem Spiritual, zu dem wir mithilfe einer ehemaligen Chorsängerin, die gerade zu einer medizinischen Behandlung in Boston weilt, die Gebärden gelernt hatten. Als wir fertig waren, sahen wir, dass nun die Choristen Tränen in den Augen hatten. Es war ein großartiger Moment des Mitgefühls und der gegenseitigen Anerkennung und Dankbarkeit.
Programmheft mit Brailleschrift |
Lara Somos und Braille-Werkstatt
Fünf Mitglieder des Chores singen seit einigen Jahren in einem Quintett zusammen. Wir haben unter anderem Guantanamera von ihnen gehört. Einer der blinden Tenöre, Gustavo Flores, komponiert und arrangiert auch für das Ensemble. Er hat uns außerdem die Braille-Werkstatt gezeigt, in dem Noten und musiktheoretische Schriften sowie Programmhefte in Braille umgeschrieben und gedruckt werden. Das System wurde in Spanien entwickelt, aber in Barquisimeto wurde es erstmals im großen Stile angewendet, um mit Blinden zu musizieren.
Ausweitung auf andere Landesteile: Mérida
Lehrerin Maria Guadalupe mit Schüler |
Nachdem das Projekt in Barquisimeto auf so große Resonanz gestoßen ist, hat man auch in vielen anderen Teilen des Landes angefangen, Programma der "Educación especial" aufzubauen. Auf unserer zweiten Station in Mérida, einer kleinen Stadt in den venezolanischen Anden haben wir ebenfalls einen Coro de Manos Blancas zu Gehör bekommen und zahlreiche Schlagzeugensemble und eine Geigengruppe. In meinem ersten Blogeintrag habe ich bereits von Omar berichtet, der uns noch bevor die Präsentation losging, seine Visitenkarten in die Hand drückte. Die Leiterin des Programms dort hat mit so viel Bewunderung von ihren Schützlingen gesprochen und das künstlerische Ergebnis war so beeindruckend, dass ich am liebsten gleich eine ähnliche Initiative in Peru starten würde. Sie bildet gerade zwei ihrer Schülerinnen, eine mit Down-Syndrom und eine Taubstumme, zu Ensembleleiterinnen aus, damit sie zukünftig mit noch mehr Kindern arbeiten kann. Eines der Highlights war das fortgeschrittene Percussionensemble mit Oye como va!