Montag, 9. Dezember 2013

Tocar y Luchar

 „El Sistema“ – diese Worte sind seit rund 10 Jahren im Munde von Musikern und Musikpädagogen weltweit. Was aber macht El Sistema so besonders? Warum gerade in Venezuela? Wie konnte diese Bewegung in 38 Jahren so groß werden und Musiker auf der ganzen Welt inspirieren?

Kinderorchester im Konservatorium in Barquisimeto
Ich hatte die großartige Gelegenheit, vier Wochen lang teilzuhaben und hautnah zu erleben, was es für die rund 468.000 Kinder und Jugendlichen hier heißt, zu „spielen und zu kämpfen“ (tocar y luchar). Ich habe Núcleos in Caracas, in der Musik-Hauptstadt des Landes Barquisimeto und in der Andenstadt Mérida kennengelernt, ich habe bei Unterricht hospitiert und selbst Einzel- und Kammermusikunterricht gegeben, ich habe in Orchestern mitgespielt, in Chören gesungen und Konzerte besucht, ich habe wundervolle und warmherzige Menschen getroffen, ich habe gelacht, getanzt und geweint. Wie kann ich all das zusammenfassen?

José Omar, 21, Schlagzeuger und Dirigent aus Mérida
Es ist tatsächlich überwältigend, was Maestro José Antonio Abreu hier aufgebaut hat! Er hat einen unerschütterlichen Glauben in die Fähigkeiten und Stärken der Menschen und man bekommt den Eindruck, dass er diesen auf all seine Mitarbeiter, auf die 285 Núcleo-Leiter und die Erwachsenen und Kinder im Projekt übertragen hat. Wie sonst kann man erklären, dass die 16-Jährige Alexandra aus einem kleinen Andendorf ohne sauberes Leitungswasser jeden Tag vier bis fünf Stunden Fahrtzeit in Kauf nimmt, um nach der Schule zur Orchesterprobe nach Mérida zu kommen und samstags zusätzlich weitere drei Stunden in einen anderen noch weiter entfernt gelegenen Núcleo fährt, um zu unterrichten? Wo stellt sich einem ein geistig behinderter 21-Jähriger namens José Omar als Dirigent vor und drückt einem als erstes seine Visitenkarte in die Hand? Wie oft haben Leute viel Geld dafür bezahlt, um Kinder und Jugendliche aus einem „Dritten-Welt-Land“ im Konzert zu erleben und anschließend minutenlang mit Standing Ovations bedacht? – so geschehen bei den 14 Konzerten der Salzburger Festspiele mit insgesamt 1400 Venezolanern in diesem Jahr!

Überall auf der Welt gibt es Beispiele von Menschen, die scheinbar über sich hinausgewachsen sind, weil jemand anderes an sie geglaubt und sie ermutigt hat. Überall gibt es Geschichten von solchen, die sich aus schwierigen Verhältnissen emporgearbeitet haben. Die Masse von solchen Beispielen in Venezuela und die Rolle der Musik dabei sind aber einzigartig. Dabei waren und sind die Umstände alles andere als ideal: 1975 gab es nur zwei professionelle Symphonieorchester im Land und dementsprechend eine extrem geringe Zahl qualifizierter klassischer Musiker und Musiklehrer. Heute steht das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Trotz eines des größten Ölvorkommens der Welt schafft es die Politik nicht, Korruption, Kriminalität und Versorgungsengpässe zu überwinden. 

Nichts ist unmöglich: Unterricht unter freiem Himmel auf dem Marktplatz von Santa Rosa, Lara.
El Sistema ist alles andere als perfekt. Überall gibt es Probleme und oft muss improvisiert werden, um aus geringen finanziellen Ressourcen, das Beste zu machen. Und doch lechzen die Leute danach, Teil dessen zu sein. Gemeinden bitten ihre Bürgermeister, einen Núcleo im Ort zu eröffnen und Eltern gestalten ihren Arbeitsalltag so um, dass sie ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht bringen können. Sie erkennen, wieviel mehr ihre Kinder davon haben, gemeinsam im Orchester zu spielen als vor dem Fernseher oder PC zu sitzen oder gar in Drogen- und Bandenmachenschaften verwickelt zu werden. Trotzdem ist es keine Beschäftigungstherapie. Die Vielfalt an Gruppierungen und das hohe Niveau waren zwei der Dinge, die mich am meisten beeindruckt haben:

Querflötenorchester in Barquisimeto, Clara Yang dirigiert
Vielfalt: Neben den allseits bekannten Orchester habe ich auch Streichquartette gesehen, sowie Blechbläsergruppen, Barockensemble, Schlagzeugensemble, Folkloregruppen mit einheimischen Instrumenten, Chöre mit einem Repertoire von Renaissance bis zu zeitgenössischen venezolanischen Komponisten, Rockorchester mit Beatles-Programm, Querflötenorchester, Klarinettenorchester uvm.. Ich habe auch einige wenige Solisten gehört, aber im Allgemeinen stehen immer die Gruppe und das Ensemble im Mittelpunkt.



Simón Bolívar Orquesta B im großen Saal des Centro de Acción in Caracas
Qualität: Venezolaner sind musikalisch nicht begabter als Menschen anderswo, aber wenn man von klein auf 15 oder 20 Stunden pro Woche Musik macht, kommen dabei viele sehr gute Musiker heraus, wobei die meisten nicht professionelle Musiker werden, sondern Medizin, Jura, Ingenieurswesen usw. studieren. Die großen Orchester Simón Bolívar und Teresa Carreño sind bekannt dafür, Tschaikowsky und Mahler mit viel Leidenschaft auf hohem Niveau spielen zu können. Von daher hat es mich weniger überrascht, dass Kinderorchester deren Beispielen nacheifern und bereits sehr früh Tschaikowsky 4. Sinfonie oder Dvoraks 9. Sinfonie spielen können. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, von Teenagern unglaublich differenzierte und fein artikulierte Haydn- oder Schubertquartette vorgetragen zu bekommen. In allen Bereichen gab es Ensembles mit derart hohem Niveau, dass ich nur staunend und fassungslos dasitzen konnte.

Dass all das möglich geworden ist, ist kein Wunder. Es ist das Resultat harter Arbeit. So viele Menschen arbeiten daran mit. Fast alle in der Administration haben selbst in El Sistema Musik gelernt, sie haben selbst gekämpft und die Kraft der Musik am eigenen Leib erfahren. Sie sind nun bereit, alles dafür zu geben, anderen Kindern die gleichen Möglichkeiten zu geben. Ich habe viele getroffen, die im Ausland studiert haben, viele haben aber einfach vor Ort so viel gelernt, dass sie ohne Universitätsabschluss oder offizielles Musikstudium sehr gute Arbeit leisten können. Und natürlich sind es vor allem die Kinder, die bereit sind, so viel Zeit und Energie in die Musik zu investieren und ihren Idolen in den großen Orchestern und Chören nachzueifern.

Trompeten in einem der unzähligen fortgeschrittenen Kinderorchester.
In den nächsten Tagen werde ich detaillierter von den einzelnen Projektteilen berichten. Für mich ist nun eine zentrale Frage, inwiefern Musiker und Musikpädagogen aus anderen Ländern davon lernen können – naturgemäß interessieren mich besonders Peru und Deutschland. Ich weiß, dass man dieses Modell nicht einfach kopieren oder replizieren kann. In jedem Land herrschen andere soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen und es gibt große Mentalitätsunterschiede. In Deutschland etwa haben wir bereits so viele existierende Strukturen und eine reiche Musikkultur. Ich denke aber, es lohnt sich, darüber zu reflektieren, welchen Stellenwert wir der individuellen künstlerischen Entwicklung und der technischen Perfektion zusprechen und welches Gewicht wir der Musik als gemeinschaftsstiftendes Mittel einräumen. Die Kinder hier kommen nicht zu den Núcleos, weil sie hoffen, ihre Geigentechnik zu perfektionieren, sie kommen, weil das der Ort ist, wo all ihre Freunde sind und wo sie als Einzelner in der Gruppe aufgehen und mit der Gruppe hochklassige künstlerische Resultate erzielen.

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