„El Sistema“ – diese Worte sind seit rund 10 Jahren im Munde
von Musikern und Musikpädagogen weltweit. Was aber macht El Sistema so
besonders? Warum gerade in Venezuela? Wie konnte diese Bewegung in 38 Jahren so
groß werden und Musiker auf der ganzen Welt inspirieren?
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Kinderorchester im Konservatorium in Barquisimeto |
Ich hatte die großartige Gelegenheit, vier Wochen lang
teilzuhaben und hautnah zu erleben, was es für die rund 468.000 Kinder und
Jugendlichen hier heißt, zu „spielen und zu kämpfen“ (tocar y luchar). Ich habe
Núcleos in Caracas, in der Musik-Hauptstadt des Landes Barquisimeto und in der
Andenstadt Mérida kennengelernt, ich habe bei Unterricht hospitiert und selbst
Einzel- und Kammermusikunterricht gegeben, ich habe in Orchestern mitgespielt,
in Chören gesungen und Konzerte besucht, ich habe wundervolle und warmherzige
Menschen getroffen, ich habe gelacht, getanzt und geweint. Wie kann ich all das
zusammenfassen?
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José Omar, 21, Schlagzeuger und Dirigent aus Mérida |
Es ist tatsächlich überwältigend, was Maestro José Antonio
Abreu hier aufgebaut hat! Er hat einen unerschütterlichen Glauben in die
Fähigkeiten und Stärken der Menschen und man bekommt den Eindruck, dass er
diesen auf all seine Mitarbeiter, auf die 285 Núcleo-Leiter und die Erwachsenen
und Kinder im Projekt übertragen hat. Wie sonst kann man erklären, dass die
16-Jährige Alexandra aus einem kleinen Andendorf ohne sauberes Leitungswasser jeden
Tag vier bis fünf Stunden Fahrtzeit in Kauf nimmt, um nach der Schule zur Orchesterprobe
nach Mérida zu kommen und samstags zusätzlich weitere drei Stunden in einen
anderen noch weiter entfernt gelegenen Núcleo fährt, um zu unterrichten? Wo
stellt sich einem ein geistig behinderter 21-Jähriger namens José Omar als
Dirigent vor und drückt einem als erstes seine Visitenkarte in die Hand? Wie
oft haben Leute viel Geld dafür bezahlt, um Kinder und Jugendliche aus einem „Dritten-Welt-Land“
im Konzert zu erleben und anschließend minutenlang mit Standing Ovations
bedacht? – so geschehen bei den 14 Konzerten der Salzburger Festspiele mit
insgesamt 1400 Venezolanern in diesem Jahr!
Überall auf der Welt gibt es Beispiele von Menschen, die
scheinbar über sich hinausgewachsen sind, weil jemand anderes an sie geglaubt und
sie ermutigt hat. Überall gibt es Geschichten von solchen, die sich aus
schwierigen Verhältnissen emporgearbeitet haben. Die Masse von solchen
Beispielen in Venezuela und die Rolle der Musik dabei sind aber einzigartig.
Dabei waren und sind die Umstände alles andere als ideal: 1975 gab es nur zwei
professionelle Symphonieorchester im Land und dementsprechend eine extrem geringe
Zahl qualifizierter klassischer Musiker und Musiklehrer. Heute steht das Land
vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Trotz eines des größten Ölvorkommens der Welt
schafft es die Politik nicht, Korruption, Kriminalität und Versorgungsengpässe
zu überwinden.
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Nichts ist unmöglich: Unterricht unter freiem Himmel auf dem Marktplatz von Santa Rosa, Lara. |
El Sistema ist alles andere als perfekt. Überall gibt es
Probleme und oft muss improvisiert werden, um aus geringen finanziellen
Ressourcen, das Beste zu machen. Und doch lechzen die Leute danach, Teil dessen
zu sein. Gemeinden bitten ihre Bürgermeister, einen Núcleo im Ort zu eröffnen
und Eltern gestalten ihren Arbeitsalltag so um, dass sie ihre Kinder
nachmittags zum Musikunterricht bringen können. Sie erkennen, wieviel mehr
ihre Kinder davon haben, gemeinsam im Orchester zu spielen als vor dem
Fernseher oder PC zu sitzen oder gar in Drogen- und Bandenmachenschaften
verwickelt zu werden. Trotzdem ist es keine Beschäftigungstherapie. Die
Vielfalt an Gruppierungen und das hohe Niveau waren zwei der Dinge, die mich am
meisten beeindruckt haben:
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Querflötenorchester in Barquisimeto, Clara Yang dirigiert |
Vielfalt: Neben
den allseits bekannten Orchester habe ich auch Streichquartette gesehen, sowie Blechbläsergruppen,
Barockensemble, Schlagzeugensemble, Folkloregruppen mit einheimischen
Instrumenten, Chöre mit einem Repertoire von Renaissance bis zu
zeitgenössischen venezolanischen Komponisten, Rockorchester mit
Beatles-Programm, Querflötenorchester, Klarinettenorchester uvm.. Ich habe
auch einige wenige Solisten gehört, aber im Allgemeinen stehen immer die Gruppe
und das Ensemble im Mittelpunkt.
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Simón Bolívar Orquesta B im großen Saal des Centro de Acción in Caracas |
Qualität: Venezolaner
sind musikalisch nicht begabter als Menschen anderswo, aber wenn man von klein
auf 15 oder 20 Stunden pro Woche Musik macht, kommen dabei viele sehr gute
Musiker heraus, wobei die meisten nicht professionelle Musiker werden, sondern Medizin, Jura, Ingenieurswesen usw. studieren. Die großen Orchester Simón Bolívar und Teresa Carre
ño
sind bekannt dafür, Tschaikowsky und Mahler mit viel Leidenschaft auf hohem
Niveau spielen zu können. Von daher hat es mich weniger überrascht, dass
Kinderorchester deren Beispielen nacheifern und bereits sehr früh Tschaikowsky
4. Sinfonie oder Dvoraks 9. Sinfonie spielen können. Womit ich allerdings nicht
gerechnet hatte war, von Teenagern unglaublich differenzierte und fein artikulierte
Haydn- oder Schubertquartette vorgetragen zu bekommen. In allen Bereichen gab
es Ensembles mit derart hohem Niveau, dass ich nur staunend und fassungslos
dasitzen konnte.
Dass all das möglich geworden ist, ist kein Wunder. Es ist
das Resultat harter Arbeit. So viele Menschen arbeiten daran mit. Fast alle in
der Administration haben selbst in El Sistema Musik gelernt, sie haben selbst
gekämpft und die Kraft der Musik am eigenen Leib erfahren. Sie sind nun bereit,
alles dafür zu geben, anderen Kindern die gleichen Möglichkeiten zu geben. Ich
habe viele getroffen, die im Ausland studiert haben, viele haben aber einfach
vor Ort so viel gelernt, dass sie ohne Universitätsabschluss oder offizielles Musikstudium
sehr gute Arbeit leisten können. Und natürlich sind es vor allem die Kinder,
die bereit sind, so viel Zeit und Energie in die Musik zu investieren und ihren
Idolen in den großen Orchestern und Chören nachzueifern.
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Trompeten in einem der unzähligen fortgeschrittenen Kinderorchester. |
In den nächsten Tagen werde ich detaillierter von den
einzelnen Projektteilen berichten. Für mich ist nun eine zentrale Frage,
inwiefern Musiker und Musikpädagogen aus anderen Ländern davon lernen können –
naturgemäß interessieren mich besonders Peru und Deutschland. Ich weiß, dass
man dieses Modell nicht einfach kopieren oder replizieren kann. In jedem Land
herrschen andere soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen und es
gibt große Mentalitätsunterschiede. In Deutschland etwa haben wir bereits so
viele existierende Strukturen und eine reiche Musikkultur. Ich denke aber, es
lohnt sich, darüber zu reflektieren, welchen Stellenwert wir der individuellen
künstlerischen Entwicklung und der technischen Perfektion zusprechen und welches
Gewicht wir der Musik als gemeinschaftsstiftendes Mittel einräumen. Die Kinder hier
kommen nicht zu den Núcleos, weil sie hoffen, ihre Geigentechnik zu
perfektionieren, sie kommen, weil das der Ort ist, wo all ihre Freunde sind und
wo sie als Einzelner in der Gruppe aufgehen und mit der Gruppe hochklassige
künstlerische Resultate erzielen.
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