Sonntag, 22. Dezember 2013

Die Entwicklung von El Sistema seit 1975

Bevor ich von den vielen Núcleo-Besichtigungen und den einzelnen Aspekten von El Sistema berichte, möchre ich hier erstmal einen Überblick über dessen Entwicklung seit der Gründung 1975 geben. Die Informationen stammen u. a. aus Gesprächen mit Rodrigo Guerrero, Vizedirektor der Fundación Musical Simón Bolívar und verantwortlich für Internationale Beziehungen (und damit auch für unsere Gruppe während unseres Aufenthaltes), und Eduardo Méndez, dem Geschäftsführer der Fundamusical, sowie von der spanischsprachigen Homepage.

Abreus Vision
1975 gab es in Venezuela nur zwei professionelle Symphonieorchester: das Nationale Symphonieorchester in Caracas und das Symphonieorchester von Maracaibo. So hatte nur eine kleine Minderheit der Venezolaner Zugang zu klassischer Musik. Der Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu hatte die Vision, ein hochklassiges Jugendorchester zu gründen, dessen Mitglieder Kinder und Jugendliche im ganzen Land unterrichten sollten. Die erste Probe fand an einem Samstagnachmittag mit einigen wenigen fortgeschrittenen jungen Musikern im Conservatorio Nacional de Música Juan José Landaeta in Caracas statt. Bereits bei der ersten Probe prophezeite Abreu den Musikern, dass sie bald ein Weltklasseorchester bilden und für die Deutsche Grammophon CDs einspielen würden.
Innerhalb kurzer Zeit schlossen sich weitere Musiker dem Orchester an. Einige von ihnen begannen daraufhin in ihren Heimatstädten Barquisimeto, Maracay und Valencia zu unterrichten. 1977 fand erstmals ein großes Sommercamp mit mehreren hundert Jugendlichen statt, zudem u. a. das Portland String Quartet als Dozenten eingeladen wurden. 
 “Music has to be recognized as an agent of social development in the highest sense, because it transmits the highest values – solidarity, harmony, mutual compassion.”(Maestro Abreu)

Langsames Wachstum
1978 wurde das Orchester in Orquesta Sinfónica Simón Bolívar (OSSBV) de Venezuela umbenannt. 1979 wurde die Stiftung FESNOJIV (seit 2011 Fundación Musical Simón Bolívar) gegründet, die im wesentlichen vom venezolanischen Staat finanziert wird und die ganze Arbeit von El Sistema verwaltet und koordiniert.
In den 80ern und 90ern wuchs das Programm langsam aber stetig - zunächst in den größeren Städten und zunehmend auch in den ländlicheren Gebieten. Abreu war während dieser Zeit nicht nur künstlerischer und organisatorischer Leiter, sondern auch weiter in der Politik aktiv und u. a. mehrere Jahre lang Kulturminister.
Seit 1982 hat El Sistema eine eigene Geigenbauschule. 1991 wurde die Academia Latinoamericana de Violín gegründet. Die Akademie bietet den besten Geiger Venezuelas und anderer lateinamerikanischer Länder Zugang zu hochklassigem Unterricht. Außerdem werden internationale Meisterkurse und Festivals veranstaltet. Seitdem sind Akademien für die Instrumente Cello, Klarinette, Querflöte, Trompete, Klavier und Kontrabass mit einem ähnlichen Angebot dazugekommen.  
"Die materielle Armut wird durch geistigen Reichtum überwunden." (Maestro Abreu)

Internationale Anerkennung und Erfolge
1995 wurde das nationale Kinderorchester gegründet, das im gleichen Jahr auf seine erste internationale Tournee ging. 2001 wurde dieses Orchester in Simón Bolívar Youth Orchestra (SBYO) umbenannt, weil die Mitglieder inzwischen dem Kindesalter entwachsen waren. 
Das "alte" Simón Bolívar Orchester reiste 2000 zur Expo nach Hannover. Sir Simon Rattle hörte das Orchester bei dieser Gelegenheit und war tief beeindruckt. Aus dieser Begegnung erwuchs eine intensive Partnerschaft nicht nur mit Rattle, sondern auch mit seinem Orchester, den Berliner Philharmonikern. Zahlreiche Mitglieder des Orchesters reisen seitdem regelmäßig zum Unterrichten nach Venezuela und Rattle hat die verschiedenen Orchester mehrfach im In- und Ausland dirigiert.
Daniel Stabrawa, Konzertmeister der Berliner Philharmoniker mit Gustavo Dudamel - abfotografiert im Bürogebäude der Fundamusical
Die beiden berühmtesten Musiker, die bisher aus El Sistema hervorgegangen sind, wurden 2003 und 2004 einem breiteren Publikum bekannt: Zuerst wurde der Kontrabassist Edicson Ruiz mit 17 Jahren das jüngste und das erste hispanoamerikanische Mitglied der Berliner Philharmoniker und dann gewann Gustavo Dudamel mit 23 Jahren den renommierten Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb. Besonders letzterer hat zur Popularität von El Sistema weltweit beigetragen. Er wurde von allen großen Orchestern eingeladen und ist seit 2009 Chefdirigent des Symphonieorchesters von Los Angeles. Sowohl Ruiz als auch Dudamel stammen aus einfachen Verhältnissen und haben es ohne die traditionelle akademische Ausbildung an die Spitze der klassischen Musikszene geschafft. Das hat viele neugierig werden lassen.
So wurde 2006 der Dokumentarfilm "Tocar y Luchar" veröffentlicht, der zeigt, wie unter diesem seit 1976 verwendeten Motto hunderttausende Kinder und Jugendliche in Venezuela in Orchestern und Chören zusammenkommen und so dem Teufelskreis von Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt entkommen. Ein weiteres Zeichen internationaler Anerkennung war die Einladung des SBYO zu den BBC Proms 2007. Im gleichen Jahr wurde das Teresa Carreño Jugendorchester gegründet, das ebenfalls jedes Jahr auf Konzerttournee geht. Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt die Eröffnung des Centro de Acción Social in Caracas, indem auf acht Stockwerken mehrere hochmoderne Konzert- und Probensäle, Unterrichtsräume, eine Bibliothek, Audio- und Videoarchiv u. a. untergebracht sind. 
Im Sommer 2013 wurden sieben Ensembles von El Sistema - insgesamt rund 1.400 junge Musiker - zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Das Kinderorchester spielte dort unter Simon Rattles Leitung u. a. Mahlers 1. Symphonie und Bernsteins Mambo.
"Chor und Orchester bilden eine Gemeinschaft, die sich ständig aufeinander abstimmt: Mehr noch als eine künstlerische Einrichtung sind sie ein Vorbild, ein Spiegel und eine unübertreffliche Schule des gesellschaftlichen Lebens." (Maestro Abreu)

Ausblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre
Nach dem rapiden Wachstum der letzten Jahre wurde in Abstimmung mit der venezolanischen Regierung der Plan Simón Bolívar verabschiedet: Bis 2019 sollen eine Million Kinder und Jugendliche in den Núcleos kostenlosen Unterricht bekommen. Man hat bereits angefangen, diesen ehrgeizigen Plan umzusetzen, indem Lehrer in Schulen im ganzen Land geschickt werden und dort zunächst Chor, Cuatro (die einheimische viersaitige Gitarre) und Grundlagen der Musiktheorie unterrichten. Nach und nach sollen die Kinder dann auch Instrumente lernen und in die Orchester und Chöre der Núcleos kommen.
Modell der Ciudad Bolívar: In der Mitte das Centro de Acción Social, links das neue Lehrerzentrum und rechts das neue Gebäude für Konzerte, Proben und Unterricht.
Bis 2019 soll außerdem die Ciudad Simón Bolívar fertig gestellt werden: neben dem Centro de Acción Social werden momentan zwei weitere Gebäude gebaut, in dem ein Zentrum für Lehrerbildung entstehen wird sowie diverse weitere Unterrichts- und Probenräume sowie Konzertsäle. Außerdem gibt es bereits ein Planungsteam für eine eigene Musikuniversität, damit diejenigen, die Profimusiker werden möchten auch Zugang zu einer akademischen Ausbildung im eigenen Land bekommen.
Auch in anderen Städten ist der Bau von neuen Musikzentren und Konzertsälen geplant. Vor kurzem wurde bekannt gegeben, dass Frank Gehry, Architekt der Walt Disney Hall in Los Angeles, den Konzertsaal Dudamel in Barquisimeto bauen wird.

Anmerkungen und weiterführende Links
Bisher war es schwierig, verlässliche Auskunft darüber zu bekommen, wieviele Kinder und Jugendliche im Rahmen von El Sistema Unterricht bekommen. Deshalb kursieren in diversen Artikeln und Berichten viele verschiedene Zahlen. In den letzten Jahren hat sich die Fundamusical deshalb verstärkt um Evaluation bemüht. Eine erste Studie der Inter American Development Bank wurde bereits veröffentlicht. Außerdem wird in Kürze eine Langzeitstudieder der gleichen Bank fertig gestellt, die die Auswirkungen von El Sistema auf über 200 teilnehmende Kinder und ihre Familien systematisch untersucht hat. 
Treffen mit José Antonio Abreu in Caracas
Es gab bereits mehrere Versuche eine Biographie über José Antonio Abreu zu schreiben, denn wo immer man hinkommt, trifft man auf einen enormen Respekt und Bewunderung seiner Person. Es ist offensichtlich, dass El Sistema ohne ihn undenkbar wäre. Er wehrt alle Fragen zu seiner eigenen Person ab. Für ihn stehen die Kinder und das Projekt im Mittelpunkt und so soll es auch die Öffentlichkeit wahrnehmen. Ich werde in einem weiteren Blog-Eintrag noch näher auf seine Person eingehen, so wie ich ihn erlebt habe und wie mir über ihn berichtet wurde. Einen sehr umfassenden Einblick in seine Philosophie gibt seine Rede von den Salzburger Festspielen
Für weitere Informationen zu El Sistema kann ich die Homepage des ehemaligen Fellows Jonathan Govias empfehlen. Dort hat er u. a. seine Übersicht zu den fünf Grundprinzipien von El Sistema veröffentlicht.
 "We no longer put society at the service of art, but instead, art at the service of society, at the service of the weakest, at the service of the children.” (Maestro Abreu)

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