Donnerstag, 15. Mai 2014

Take A Stand - Sistema Konferenz in Los Angeles

Nachdem ich viel über Venezuela geschrieben habe, ist es nun Zeit, den Blick auf das zu richten, was anderswo an der Schnittstelle von Musikpädagogik und Sozialem Wandel passiert. Im Februar waren wir eine Woche lang in Los Angeles bei der internationalen "Take A Stand"-Konferenz. Dabei kamen über 400 VertreterInnen von Sistema-inspirierten Projekten aus 28 US-Staaten und 13 Ländern zusammen. Die Konferenz wurde ausgetragen von LA Philharmonic (mit seinem derzeitigen Chefdirigenten Gustavo Dudamel), sowie Longy School of Music (Boston) in Kooperation mit Bard College (NY).

Besonders beeindruckt haben mich zwei Vorträge von Leon Botstein (Dirigent und Präsident vom Bard College), der über die Rolle klassischer Musik in der Geschichte und heute gesprochen hat, und Marianne Diaz, einer Sozialarbeiterin, die über ihre Jugend als Gangmitglied in einem Umfeld von Gewalt und Drogen berichtet hat. Außerdem hatten wir Gelegenheit, YOLA (Youth Orchestra of Los Angeles) und iCAN (incredible Children's Art Network in Santa Barbara) zu besuchen. Parallel zur Konferenz war das Simón Bolívar Orchester aus Venezuela in der Stadt, das mit Gustavo Dudamel ein zweiwöchiges Tschaikowsky-Festival in der Walt Disney Hall veranstaltet, sowie diverse Konzerte und Unterrichtseinheiten in Schulen gegeben hat. Am letzten Konferenztag kamen rund 25 Mitglieder von ihnen zu einer "Side-by-Side"-Probe mit 30 Kindern aus diversen US Sistema-Projekten, Lehrern und Konferenzteilnehmern. So durfte ich unter der Leitung von Jesús Parra, dem 19-jährigen Assistenten von Dudamel, den Slawischen Marsch von Tschaikowsky spielen!

Wir haben unsere "Takeaways", wie man hier so schön sagt, in der monatlichen Online-Zeitschrift "Ensemble" festhalten dürfen. Außerdem kann man auf der Homepage von LA Phil Mitschnitte von allen Vorträgen, Berichte, Fotos und Videos finden.
Walt Disney Hall
Kinder vom YOLA-Projekt und Teilnehmer des "Leadership Forums for Young Musicians" präsentieren ihre Ergebnisse. 


Jesús Parra leitet die Side-by-Side-Probe

Mittwoch, 14. Mai 2014

Perspectives on El Sistema

Eininge Monate nach meiner Venezuela-Reise möchte ich nun die Serie meiner Blogeinträge darüber zum Abschluss bringen und auf unseren Bericht hinweisen, den wir auf Bitte von Dr. José Antonio Abreu geschrieben haben:(http://sistemafellows.typepad.com/files/perspectives-on-el-sistema_wide-distribution.pdf) Darin reflektieren wir über unsere Erwartungen vor und unsere Erfahrungen während des vierwöchigen Aufenthaltes. Viele der zentralen Punkte habe ich in meinen letzten Blogbeiträgen bereits angesprochen. Für mich war es spannend, gemeinsam mit den anderen Fellows zu untersuchen, wie die Lernkultur in Venezuela mit der Organisationskultur Hand in Hand gehen und wie beide zusammen enormen Einfluss auf das gesellschaftliche Umfeld ausüben. Die Tatsache, dass ein mehrmals für den Friedensnobelpreis-nominierter Mann mit fast 40 Jahren Erfahrung in der Leitung einer derart erfolgreichen Bewegung uns Jungspunde nach unserer Meinung befragt, zeugt von seiner großen Lernbereitschaft und Demut. Es geht ihm nie darum, sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen und mit seinen Erfolgen zu prahlen, vielmehr rückt er immer wieder die Kinder ins Zentrum und tut alles, um das Projekt weiter voranzubringen.

Samstag, 28. Dezember 2013

Educación especial - Menschen mit Behinderung auf der großen Bühne

Wieviele von uns haben im täglichen Leben Kontakt zu Menschen mit Behinderung? Wievele von uns haben schon mit solchen zusammen musiziert? Wie oft empfinden wir nur Mitleid für diese Menschen und wie oft Respekt und Anerkennung? In Deutschland gibt es immer mehr Bemühungen, inklusiv zu sein und schon in den Schulen alle zu integrieren, es gibt viele Behindertenwerkstätten und andere Einrichtungen, in denen diese Menschen ernst genommen werden und eine sinnvolle Beschäftigung finden. Auf musikalischer Ebene gibt es spezialisierte Musiktherapie-Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. 

Ist aber auch schon mal jemand auf die Idee gekommen, dass Menschen mit Behinderung nicht musikalisch "therapiert" werden müssen, sondern genauso wie alle anderen zusammen lernen und musizieren können? Dass es unter ihnen genauso musikalisch hochbegabte gibt? Vielleicht kenne ich die deutsche Musiklandschaft nicht gut genug, vielleicht tue ich ihr Unrecht, wenn ich sage, dass zu viel therapiert wird und Menschen mit Behinderung nur mit Mitleid begegnet wird. Ich bin in Deutschland zumindest noch keinem begegnet, der mit so viel Ernsthaftigkeit und auf so hohem Niveau mit Menschen mit Behinderung musiziert wie im Programm für "Eduación especial" in Venezuela. Es steht sinnbildlich für die Philosophie von Sistema: Vertraue in die Fähigkeiten des Kindes, arbeite jeden Tag auf hohem künstlerischem Niveau mit ihm und setze auf die starke Gruppendynamik des Ensembles!

Beginn im Konservatorium von Barquisimeto im Jahr 2000
Gesangsquintett Lara Somos
Im Konservatorium von Barquisimeto hat Jhonny Gómez auf Bitte José Antonio Abreus im Jahr 2000 angefangen, spezielle Ensembles für Kinder und Jugendliche mit Behinderung einzurichten. In Venezuela gab und gibt es nur sehr wenige Förderprogramme und spezialisierte Schulen für Blinde, Gehörlose, Kinder mit Down-Syndrom oder Lernschwierigkeiten, Autisten etc.. Die Idee der "Educación Especial" ist, mit diesen Kindern intensiv auf künstlerisch hohem Niveau zu arbeiten, ihnen die medizinische und persönliche Betreung zu bieten, die sie außerhalb nicht bekommen (können) und sie in die Gemeinschaft des Konservatoriums zu integrieren.
Glockenensemble
Die Kinder proben drei- bis fünfmal pro Woche. In den Ensembles singen und spielen oft auch Geschwister, Eltern oder andere Betreuer der Kinder mit. Außerdem gibt es immer mehr Kinder ohne Behinderung, die sich für diese Ensemble anmelden, so dass es inzwischen für die großen Ensembles eine Warteliste gibt. Neben Flöten- und Schlagzeuggruppen gibt es auch mehrere Glockenensemble (hier mit dem Pachelbel Canon). Es gibt mehrere spezialisierte Ärzte, die im Konservatorium nur für diese Kinder da sind. Die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen sind omnipräsent, so dass auch diejenigen, die nicht im direkten Kontakt zu den Spezialensembles stehen, gewohnt sind, mit ihnen umzugehen und sie als selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft zu verstehen.

Coro de Manos Blancas
 Als der "Chor der weißen Hände" gegründet wurde, wollte man vor allem den Taubstummen die Möglichkeit geben, Teil eines musikalischen Ensembles werden zu können. So teilte man den Chor in zwei Hälften: die eine Hälfte singt und die andere interpretiert den Text mit weißen Handschuehen in Gebärdensprache. Inzwischen vereint der Chor über 100 Menschen mit diversen Behinderungen sowie einige ohne Behinderung. Der Chor war eines der venezolanischen Ensemble, das bei den Salzburger Festspielen (in der teuersten Preisklasse) aufgetreten ist. Hier ein Video von "El Gavilán" aus dem Festspielhaus und eine Dokumentation über den Chor und seine Reise nach Österreich. Wir waren bei der Präsentation des Chores zu Tränen gerührt - so wie wohl fast alle Besucher vor uns auch. Wir bedankten uns beim Chor mit einem Spiritual, zu dem wir mithilfe einer ehemaligen Chorsängerin, die gerade zu einer medizinischen Behandlung in Boston weilt, die Gebärden gelernt hatten. Als wir fertig waren, sahen wir, dass nun die Choristen Tränen in den Augen hatten. Es war ein großartiger Moment des Mitgefühls und der gegenseitigen Anerkennung und Dankbarkeit.
Programmheft mit Brailleschrift

Lara Somos und Braille-Werkstatt
Fünf Mitglieder des Chores singen seit einigen Jahren in einem Quintett zusammen. Wir haben unter anderem Guantanamera von ihnen gehört. Einer der blinden Tenöre, Gustavo Flores, komponiert und arrangiert auch für das Ensemble. Er hat uns außerdem die Braille-Werkstatt gezeigt, in dem Noten und musiktheoretische Schriften sowie Programmhefte in Braille umgeschrieben und gedruckt werden. Das System wurde in Spanien entwickelt, aber in Barquisimeto wurde es erstmals im großen Stile angewendet, um mit Blinden zu musizieren. 
 
Ausweitung auf andere Landesteile: Mérida
Lehrerin Maria Guadalupe mit Schüler
Nachdem das Projekt in Barquisimeto auf so große Resonanz gestoßen ist, hat man auch in vielen anderen Teilen des Landes angefangen, Programma der "Educación especial" aufzubauen. Auf unserer zweiten Station in Mérida, einer kleinen Stadt in den venezolanischen Anden haben wir ebenfalls einen Coro de Manos Blancas zu Gehör bekommen und zahlreiche Schlagzeugensemble und eine Geigengruppe. In meinem ersten Blogeintrag habe ich bereits von Omar berichtet, der uns noch bevor die Präsentation losging, seine Visitenkarten in die Hand drückte. Die Leiterin des Programms dort hat mit so viel Bewunderung von ihren Schützlingen gesprochen und das künstlerische Ergebnis war so beeindruckend, dass ich am liebsten gleich eine ähnliche Initiative in Peru starten würde. Sie bildet gerade zwei ihrer Schülerinnen, eine mit Down-Syndrom und eine Taubstumme, zu Ensembleleiterinnen aus, damit sie zukünftig mit noch mehr Kindern arbeiten kann. Eines der Highlights war das fortgeschrittene Percussionensemble mit Oye como va!




































Sonntag, 22. Dezember 2013

Die Entwicklung von El Sistema seit 1975

Bevor ich von den vielen Núcleo-Besichtigungen und den einzelnen Aspekten von El Sistema berichte, möchre ich hier erstmal einen Überblick über dessen Entwicklung seit der Gründung 1975 geben. Die Informationen stammen u. a. aus Gesprächen mit Rodrigo Guerrero, Vizedirektor der Fundación Musical Simón Bolívar und verantwortlich für Internationale Beziehungen (und damit auch für unsere Gruppe während unseres Aufenthaltes), und Eduardo Méndez, dem Geschäftsführer der Fundamusical, sowie von der spanischsprachigen Homepage.

Abreus Vision
1975 gab es in Venezuela nur zwei professionelle Symphonieorchester: das Nationale Symphonieorchester in Caracas und das Symphonieorchester von Maracaibo. So hatte nur eine kleine Minderheit der Venezolaner Zugang zu klassischer Musik. Der Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu hatte die Vision, ein hochklassiges Jugendorchester zu gründen, dessen Mitglieder Kinder und Jugendliche im ganzen Land unterrichten sollten. Die erste Probe fand an einem Samstagnachmittag mit einigen wenigen fortgeschrittenen jungen Musikern im Conservatorio Nacional de Música Juan José Landaeta in Caracas statt. Bereits bei der ersten Probe prophezeite Abreu den Musikern, dass sie bald ein Weltklasseorchester bilden und für die Deutsche Grammophon CDs einspielen würden.
Innerhalb kurzer Zeit schlossen sich weitere Musiker dem Orchester an. Einige von ihnen begannen daraufhin in ihren Heimatstädten Barquisimeto, Maracay und Valencia zu unterrichten. 1977 fand erstmals ein großes Sommercamp mit mehreren hundert Jugendlichen statt, zudem u. a. das Portland String Quartet als Dozenten eingeladen wurden. 
 “Music has to be recognized as an agent of social development in the highest sense, because it transmits the highest values – solidarity, harmony, mutual compassion.”(Maestro Abreu)

Langsames Wachstum
1978 wurde das Orchester in Orquesta Sinfónica Simón Bolívar (OSSBV) de Venezuela umbenannt. 1979 wurde die Stiftung FESNOJIV (seit 2011 Fundación Musical Simón Bolívar) gegründet, die im wesentlichen vom venezolanischen Staat finanziert wird und die ganze Arbeit von El Sistema verwaltet und koordiniert.
In den 80ern und 90ern wuchs das Programm langsam aber stetig - zunächst in den größeren Städten und zunehmend auch in den ländlicheren Gebieten. Abreu war während dieser Zeit nicht nur künstlerischer und organisatorischer Leiter, sondern auch weiter in der Politik aktiv und u. a. mehrere Jahre lang Kulturminister.
Seit 1982 hat El Sistema eine eigene Geigenbauschule. 1991 wurde die Academia Latinoamericana de Violín gegründet. Die Akademie bietet den besten Geiger Venezuelas und anderer lateinamerikanischer Länder Zugang zu hochklassigem Unterricht. Außerdem werden internationale Meisterkurse und Festivals veranstaltet. Seitdem sind Akademien für die Instrumente Cello, Klarinette, Querflöte, Trompete, Klavier und Kontrabass mit einem ähnlichen Angebot dazugekommen.  
"Die materielle Armut wird durch geistigen Reichtum überwunden." (Maestro Abreu)

Internationale Anerkennung und Erfolge
1995 wurde das nationale Kinderorchester gegründet, das im gleichen Jahr auf seine erste internationale Tournee ging. 2001 wurde dieses Orchester in Simón Bolívar Youth Orchestra (SBYO) umbenannt, weil die Mitglieder inzwischen dem Kindesalter entwachsen waren. 
Das "alte" Simón Bolívar Orchester reiste 2000 zur Expo nach Hannover. Sir Simon Rattle hörte das Orchester bei dieser Gelegenheit und war tief beeindruckt. Aus dieser Begegnung erwuchs eine intensive Partnerschaft nicht nur mit Rattle, sondern auch mit seinem Orchester, den Berliner Philharmonikern. Zahlreiche Mitglieder des Orchesters reisen seitdem regelmäßig zum Unterrichten nach Venezuela und Rattle hat die verschiedenen Orchester mehrfach im In- und Ausland dirigiert.
Daniel Stabrawa, Konzertmeister der Berliner Philharmoniker mit Gustavo Dudamel - abfotografiert im Bürogebäude der Fundamusical
Die beiden berühmtesten Musiker, die bisher aus El Sistema hervorgegangen sind, wurden 2003 und 2004 einem breiteren Publikum bekannt: Zuerst wurde der Kontrabassist Edicson Ruiz mit 17 Jahren das jüngste und das erste hispanoamerikanische Mitglied der Berliner Philharmoniker und dann gewann Gustavo Dudamel mit 23 Jahren den renommierten Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb. Besonders letzterer hat zur Popularität von El Sistema weltweit beigetragen. Er wurde von allen großen Orchestern eingeladen und ist seit 2009 Chefdirigent des Symphonieorchesters von Los Angeles. Sowohl Ruiz als auch Dudamel stammen aus einfachen Verhältnissen und haben es ohne die traditionelle akademische Ausbildung an die Spitze der klassischen Musikszene geschafft. Das hat viele neugierig werden lassen.
So wurde 2006 der Dokumentarfilm "Tocar y Luchar" veröffentlicht, der zeigt, wie unter diesem seit 1976 verwendeten Motto hunderttausende Kinder und Jugendliche in Venezuela in Orchestern und Chören zusammenkommen und so dem Teufelskreis von Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt entkommen. Ein weiteres Zeichen internationaler Anerkennung war die Einladung des SBYO zu den BBC Proms 2007. Im gleichen Jahr wurde das Teresa Carreño Jugendorchester gegründet, das ebenfalls jedes Jahr auf Konzerttournee geht. Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt die Eröffnung des Centro de Acción Social in Caracas, indem auf acht Stockwerken mehrere hochmoderne Konzert- und Probensäle, Unterrichtsräume, eine Bibliothek, Audio- und Videoarchiv u. a. untergebracht sind. 
Im Sommer 2013 wurden sieben Ensembles von El Sistema - insgesamt rund 1.400 junge Musiker - zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Das Kinderorchester spielte dort unter Simon Rattles Leitung u. a. Mahlers 1. Symphonie und Bernsteins Mambo.
"Chor und Orchester bilden eine Gemeinschaft, die sich ständig aufeinander abstimmt: Mehr noch als eine künstlerische Einrichtung sind sie ein Vorbild, ein Spiegel und eine unübertreffliche Schule des gesellschaftlichen Lebens." (Maestro Abreu)

Ausblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre
Nach dem rapiden Wachstum der letzten Jahre wurde in Abstimmung mit der venezolanischen Regierung der Plan Simón Bolívar verabschiedet: Bis 2019 sollen eine Million Kinder und Jugendliche in den Núcleos kostenlosen Unterricht bekommen. Man hat bereits angefangen, diesen ehrgeizigen Plan umzusetzen, indem Lehrer in Schulen im ganzen Land geschickt werden und dort zunächst Chor, Cuatro (die einheimische viersaitige Gitarre) und Grundlagen der Musiktheorie unterrichten. Nach und nach sollen die Kinder dann auch Instrumente lernen und in die Orchester und Chöre der Núcleos kommen.
Modell der Ciudad Bolívar: In der Mitte das Centro de Acción Social, links das neue Lehrerzentrum und rechts das neue Gebäude für Konzerte, Proben und Unterricht.
Bis 2019 soll außerdem die Ciudad Simón Bolívar fertig gestellt werden: neben dem Centro de Acción Social werden momentan zwei weitere Gebäude gebaut, in dem ein Zentrum für Lehrerbildung entstehen wird sowie diverse weitere Unterrichts- und Probenräume sowie Konzertsäle. Außerdem gibt es bereits ein Planungsteam für eine eigene Musikuniversität, damit diejenigen, die Profimusiker werden möchten auch Zugang zu einer akademischen Ausbildung im eigenen Land bekommen.
Auch in anderen Städten ist der Bau von neuen Musikzentren und Konzertsälen geplant. Vor kurzem wurde bekannt gegeben, dass Frank Gehry, Architekt der Walt Disney Hall in Los Angeles, den Konzertsaal Dudamel in Barquisimeto bauen wird.

Anmerkungen und weiterführende Links
Bisher war es schwierig, verlässliche Auskunft darüber zu bekommen, wieviele Kinder und Jugendliche im Rahmen von El Sistema Unterricht bekommen. Deshalb kursieren in diversen Artikeln und Berichten viele verschiedene Zahlen. In den letzten Jahren hat sich die Fundamusical deshalb verstärkt um Evaluation bemüht. Eine erste Studie der Inter American Development Bank wurde bereits veröffentlicht. Außerdem wird in Kürze eine Langzeitstudieder der gleichen Bank fertig gestellt, die die Auswirkungen von El Sistema auf über 200 teilnehmende Kinder und ihre Familien systematisch untersucht hat. 
Treffen mit José Antonio Abreu in Caracas
Es gab bereits mehrere Versuche eine Biographie über José Antonio Abreu zu schreiben, denn wo immer man hinkommt, trifft man auf einen enormen Respekt und Bewunderung seiner Person. Es ist offensichtlich, dass El Sistema ohne ihn undenkbar wäre. Er wehrt alle Fragen zu seiner eigenen Person ab. Für ihn stehen die Kinder und das Projekt im Mittelpunkt und so soll es auch die Öffentlichkeit wahrnehmen. Ich werde in einem weiteren Blog-Eintrag noch näher auf seine Person eingehen, so wie ich ihn erlebt habe und wie mir über ihn berichtet wurde. Einen sehr umfassenden Einblick in seine Philosophie gibt seine Rede von den Salzburger Festspielen
Für weitere Informationen zu El Sistema kann ich die Homepage des ehemaligen Fellows Jonathan Govias empfehlen. Dort hat er u. a. seine Übersicht zu den fünf Grundprinzipien von El Sistema veröffentlicht.
 "We no longer put society at the service of art, but instead, art at the service of society, at the service of the weakest, at the service of the children.” (Maestro Abreu)

Montag, 9. Dezember 2013

Tocar y Luchar

 „El Sistema“ – diese Worte sind seit rund 10 Jahren im Munde von Musikern und Musikpädagogen weltweit. Was aber macht El Sistema so besonders? Warum gerade in Venezuela? Wie konnte diese Bewegung in 38 Jahren so groß werden und Musiker auf der ganzen Welt inspirieren?

Kinderorchester im Konservatorium in Barquisimeto
Ich hatte die großartige Gelegenheit, vier Wochen lang teilzuhaben und hautnah zu erleben, was es für die rund 468.000 Kinder und Jugendlichen hier heißt, zu „spielen und zu kämpfen“ (tocar y luchar). Ich habe Núcleos in Caracas, in der Musik-Hauptstadt des Landes Barquisimeto und in der Andenstadt Mérida kennengelernt, ich habe bei Unterricht hospitiert und selbst Einzel- und Kammermusikunterricht gegeben, ich habe in Orchestern mitgespielt, in Chören gesungen und Konzerte besucht, ich habe wundervolle und warmherzige Menschen getroffen, ich habe gelacht, getanzt und geweint. Wie kann ich all das zusammenfassen?

José Omar, 21, Schlagzeuger und Dirigent aus Mérida
Es ist tatsächlich überwältigend, was Maestro José Antonio Abreu hier aufgebaut hat! Er hat einen unerschütterlichen Glauben in die Fähigkeiten und Stärken der Menschen und man bekommt den Eindruck, dass er diesen auf all seine Mitarbeiter, auf die 285 Núcleo-Leiter und die Erwachsenen und Kinder im Projekt übertragen hat. Wie sonst kann man erklären, dass die 16-Jährige Alexandra aus einem kleinen Andendorf ohne sauberes Leitungswasser jeden Tag vier bis fünf Stunden Fahrtzeit in Kauf nimmt, um nach der Schule zur Orchesterprobe nach Mérida zu kommen und samstags zusätzlich weitere drei Stunden in einen anderen noch weiter entfernt gelegenen Núcleo fährt, um zu unterrichten? Wo stellt sich einem ein geistig behinderter 21-Jähriger namens José Omar als Dirigent vor und drückt einem als erstes seine Visitenkarte in die Hand? Wie oft haben Leute viel Geld dafür bezahlt, um Kinder und Jugendliche aus einem „Dritten-Welt-Land“ im Konzert zu erleben und anschließend minutenlang mit Standing Ovations bedacht? – so geschehen bei den 14 Konzerten der Salzburger Festspiele mit insgesamt 1400 Venezolanern in diesem Jahr!

Überall auf der Welt gibt es Beispiele von Menschen, die scheinbar über sich hinausgewachsen sind, weil jemand anderes an sie geglaubt und sie ermutigt hat. Überall gibt es Geschichten von solchen, die sich aus schwierigen Verhältnissen emporgearbeitet haben. Die Masse von solchen Beispielen in Venezuela und die Rolle der Musik dabei sind aber einzigartig. Dabei waren und sind die Umstände alles andere als ideal: 1975 gab es nur zwei professionelle Symphonieorchester im Land und dementsprechend eine extrem geringe Zahl qualifizierter klassischer Musiker und Musiklehrer. Heute steht das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Trotz eines des größten Ölvorkommens der Welt schafft es die Politik nicht, Korruption, Kriminalität und Versorgungsengpässe zu überwinden. 

Nichts ist unmöglich: Unterricht unter freiem Himmel auf dem Marktplatz von Santa Rosa, Lara.
El Sistema ist alles andere als perfekt. Überall gibt es Probleme und oft muss improvisiert werden, um aus geringen finanziellen Ressourcen, das Beste zu machen. Und doch lechzen die Leute danach, Teil dessen zu sein. Gemeinden bitten ihre Bürgermeister, einen Núcleo im Ort zu eröffnen und Eltern gestalten ihren Arbeitsalltag so um, dass sie ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht bringen können. Sie erkennen, wieviel mehr ihre Kinder davon haben, gemeinsam im Orchester zu spielen als vor dem Fernseher oder PC zu sitzen oder gar in Drogen- und Bandenmachenschaften verwickelt zu werden. Trotzdem ist es keine Beschäftigungstherapie. Die Vielfalt an Gruppierungen und das hohe Niveau waren zwei der Dinge, die mich am meisten beeindruckt haben:

Querflötenorchester in Barquisimeto, Clara Yang dirigiert
Vielfalt: Neben den allseits bekannten Orchester habe ich auch Streichquartette gesehen, sowie Blechbläsergruppen, Barockensemble, Schlagzeugensemble, Folkloregruppen mit einheimischen Instrumenten, Chöre mit einem Repertoire von Renaissance bis zu zeitgenössischen venezolanischen Komponisten, Rockorchester mit Beatles-Programm, Querflötenorchester, Klarinettenorchester uvm.. Ich habe auch einige wenige Solisten gehört, aber im Allgemeinen stehen immer die Gruppe und das Ensemble im Mittelpunkt.



Simón Bolívar Orquesta B im großen Saal des Centro de Acción in Caracas
Qualität: Venezolaner sind musikalisch nicht begabter als Menschen anderswo, aber wenn man von klein auf 15 oder 20 Stunden pro Woche Musik macht, kommen dabei viele sehr gute Musiker heraus, wobei die meisten nicht professionelle Musiker werden, sondern Medizin, Jura, Ingenieurswesen usw. studieren. Die großen Orchester Simón Bolívar und Teresa Carreño sind bekannt dafür, Tschaikowsky und Mahler mit viel Leidenschaft auf hohem Niveau spielen zu können. Von daher hat es mich weniger überrascht, dass Kinderorchester deren Beispielen nacheifern und bereits sehr früh Tschaikowsky 4. Sinfonie oder Dvoraks 9. Sinfonie spielen können. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, von Teenagern unglaublich differenzierte und fein artikulierte Haydn- oder Schubertquartette vorgetragen zu bekommen. In allen Bereichen gab es Ensembles mit derart hohem Niveau, dass ich nur staunend und fassungslos dasitzen konnte.

Dass all das möglich geworden ist, ist kein Wunder. Es ist das Resultat harter Arbeit. So viele Menschen arbeiten daran mit. Fast alle in der Administration haben selbst in El Sistema Musik gelernt, sie haben selbst gekämpft und die Kraft der Musik am eigenen Leib erfahren. Sie sind nun bereit, alles dafür zu geben, anderen Kindern die gleichen Möglichkeiten zu geben. Ich habe viele getroffen, die im Ausland studiert haben, viele haben aber einfach vor Ort so viel gelernt, dass sie ohne Universitätsabschluss oder offizielles Musikstudium sehr gute Arbeit leisten können. Und natürlich sind es vor allem die Kinder, die bereit sind, so viel Zeit und Energie in die Musik zu investieren und ihren Idolen in den großen Orchestern und Chören nachzueifern.

Trompeten in einem der unzähligen fortgeschrittenen Kinderorchester.
In den nächsten Tagen werde ich detaillierter von den einzelnen Projektteilen berichten. Für mich ist nun eine zentrale Frage, inwiefern Musiker und Musikpädagogen aus anderen Ländern davon lernen können – naturgemäß interessieren mich besonders Peru und Deutschland. Ich weiß, dass man dieses Modell nicht einfach kopieren oder replizieren kann. In jedem Land herrschen andere soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen und es gibt große Mentalitätsunterschiede. In Deutschland etwa haben wir bereits so viele existierende Strukturen und eine reiche Musikkultur. Ich denke aber, es lohnt sich, darüber zu reflektieren, welchen Stellenwert wir der individuellen künstlerischen Entwicklung und der technischen Perfektion zusprechen und welches Gewicht wir der Musik als gemeinschaftsstiftendes Mittel einräumen. Die Kinder hier kommen nicht zu den Núcleos, weil sie hoffen, ihre Geigentechnik zu perfektionieren, sie kommen, weil das der Ort ist, wo all ihre Freunde sind und wo sie als Einzelner in der Gruppe aufgehen und mit der Gruppe hochklassige künstlerische Resultate erzielen.

Montag, 11. November 2013

Musikleben in Boston und in den Amerikas

Seit dem letzten Blogeintrag sind schon einige Wochen vergangen. Inzwischen war ich mit den Fellows eine Woche in Chicago, wo wir an der Conference for Community Arts Education teilgenommen haben und natürlich auch ein bisschen Zeit für Sightseeing in dieser architektonisch faszinierenden Stadt am Lake Michigan hatten. Außerdem haben wir uns viele weitere inspirierende Musik- und Kunstprojekte in und um Boston angeschaut. Abgesehen davon nehme ich im Moment besonders viel aus dem Public Speeching-Seminar mit dem Hochschulpräsidenten Tony Woodcock mit, sowie aus den Strategic Planning-Stunden mit einem „Unternehmensberater“ für Kultureinrichtungen. Im Rahmen dieses Kurses erarbeiten wir im Laufe des Jahres einen Plan für einen möglichen „Núcleo“ (so werden Sistema-Projekte genannt). Einige Fellows haben vor, nach diesem Jahr, ein neues Projekt zu starten. Ich möchte nach Peru gehen und überlege daher, wie man die Arbeit von Arpegio verbessern könnte. Einige Elemente unseres Núcleo-Plans sind Mission, Vision, Werte, Zielgruppe, pädagogisches Konzept, Finanzierung und Evaluationsmöglichkeiten.
Chicago vom Wasser aus
Mein Lieblingshochhaus: das 262m hohe "Aqua", gebaut von einer weiblichen Architektin!

Pumpkin Carving Party kurz vor Halloween
Heute möchte ich aber vor allem über meine Eindrücke vom hiesigen Musikleben berichten.
Ich war schon vier- oder fünfmal bei Konzerten des Boston Symphony Orchestra (BSO). Das Orchester gehört zweifellos zu den Spitzenorchestern in den USA und auf der Welt, aber so richtig vom Hocker gerissen hat mich keines der Konzerte. Ich habe das zunächst darauf zurückgeführt, dass ich schlechte Plätze hatte – das ist in der Symphony Hall kein Kunststück; der Saal schaut zwar sehr prächtig aus, aber egal, wo man im Parkett sitzt, sieht man nur die erste Reihe der Musiker, weil es keine Podeste für die hinteren Spieler gibt. Im hinteren Bereich des Parketts ist der Genuss auch noch akustisch eingeschränkt, weil man dann den Balkon über sich hat. Beim letzten Konzert saß ich aber ganz vorne im ersten Rang und konnte nun aus der Nähe das wahrscheinlich eigentliche Übel begutachten – die Musiker sitzen auf ihren Stühlen wie angegossen. Selbst die Stimmführer und Solobläser bewegen sich fast gar nicht. Gerüchteweise habe ich gehört, dass in den Verträgen der Musiker steht, dass sie sich nicht bewegen dürfen... Aber schlimmer als das fand ich an besagtem Abend, dass die Musiker dermaßen gelangweilt dreingeschaut haben – und das bei  Mahlers „Lied von der Erde“ unter Daniel Harding! Ich habe schon von vielen Musikern hier gehört, dass sie das Orchester nicht mögen, weil sie sehr konservative Programme haben und unmotiviert spielen würden; da ich die technische Qualität und den Klang (besonders vom Blech!) bei den ersten Konzerten aber ziemlich toll fand, bin ich trotzdem weiter in die Konzerte gegangen, aber dieser Abend hat mir den Rest gegeben. Das war der Inbegriff von steifem und unpersönlichem klassischen Symphoniekonzert ohne Leidenschaft und Esprit. 

Das New England Conservatory (NEC) wirbt einerseits damit, einen Großteil der Nachwuchsmusiker für das BSO auszubilden und bewegt sich damit ganz auf den traditionellen Konservatoriumspfaden, andererseits gibt es aber auch ein großes Jazz-Department und ein kleineres für „Contemporary Improvisation“. Außerdem gibt es ein großes Angebot im Bereich „entrepreneurial musicianship“. Zwei Konzerte, die ich in den letzten Wochen besucht habe, und dich mich sehr viel mehr berührt haben als die Symphoniekonzerte, sind dafür repräsentativ:

Das erste war ein Hauskonzert bei einem venezolanischen Cellisten, der sich ein paar Tage zuvor mit uns getroffen hatte, um uns seine sehr bewegende Lebensgeschichte zu erzählen. Er hat zusammen mit seiner Frau, einer halb indisch halb japanischen Sängerin, und einer weiteren US-amerikanischen Sängerin (alle drei NEC-Alumni) ein Trio (Voci Angelica Trio) gebildet, das Volksmusik aus aller Welt aufführt. Dabei singen meistens die beiden Damen und alle drei begleiten mit allen möglichen Schlag- und Zupfinstrumenten sowie Cello.  In ihren Moderationen stellen sie Verbindungen zwischen den verschiedenen Kulturen und ihren Traditionen und Geschichten her und erzählen von ihren persönlichen Verbindungen mit den Stücken. Die musikalische Darbietung war auf höchstem Niveau und der ganze Rahmen als Hauskonzert mit Essen und Trinken war sehr einladend und familiär.

Das zweite war ein Abend mit einem ganz tollen Geiger, Studenten von Donald Weilerstein, und dessen Klavierbegleiter mit rein französischen Programm. Der Geiger hatte dafür ein Programmheft erstellt, in dem er hervorragende, selbst geschriebene Einführungstexte zu den Stücken mit Werken französischer Maler kombinierte. Obwohl ich nicht mit dem Geiger gesprochen habe, hatte ich das Gefühl, eine persönliche Verbindung mit ihm herzustellen – seine Beziehung zu den Stücken und den Prozess des Erarbeitens sowie seine Gedanken über den Rahmen dieser Stücke hinaus. Ich saß nicht mit kritischem Ohr da (was macht er falsch, wie ist seine Technik, wie ist seine Intonation, spielt er musikalisch, ...) – all die Dinge mit denen wir im Instrumentalunterricht aufgewachsen sind – sondern ich fühlte mit ihm die Begeisterung für diese Stücke, die er im Programmheft zum Ausdruck gebracht hatte. Warum ist uns Musik so wichtig? Weil wir uns mit ihr ausdrücken können. Musikmachen ist emotional und persönlich. Aber gerade die persönliche Komponente geht im klassischen Musikbetrieb meiner Ansicht nach allzuoft unter. Es geht darum, diesen genialen Komponisten gerecht zu werden und damit ist man meistens zum Scheitern verurteilt. Dieser Geiger hat an diesem Abend auch phänomenal gespielt, aber selbst wenn nicht, hätte ich es ihm nachgesehen, weil er sich im Vorfeld viele Stunden Zeit genommen hat, um seine Gedanken und Gefühle zu den Stücken aufzuschreiben und mit dem Publikum zu teilen.

Das einzige reguläre Seminar, das ich hier am NEC besuche und das nicht exklusiv für uns Fellows ist, ist eines über die Geschichte klassischer Musik in Lateinamerika seit Beginn der Kolonialisierung. Der Dozent ist ein deutsch-venezolanischer Musikwissenschaftler und Gitarrist. In diesem Semester haben wir uns mit der Entwicklung in den verschiedenen Regionen bis ins 19. Jahrhundert beschäftigt. Ich wusste zwar aus Begegnungen mit zwei bolivianischen Barockensemblen aus ehemaligen Jesuitenzentren, dass klassische Musik nicht erst im letzten Jahrhundert in Lateinamerika gelandet ist, aber ich war dann doch ziemlich platt angesichts der Vielfalt von klassischen Komponisten und der Qualität ihrer Kompositionen. In allen lateinamerikanischen Ländern gab es Orchester und Kompositionsschulen. Einige Stücke ähneln denen zeitgenössischer europäischer Komponisten, andere sind eine Kombination aus europäischer Tradition kombiniert mit einheimischen Elementen. Hier einige meiner Favoriten bzw.:
Wie ihr seht, gibt es abseits des Standardrepertoires noch viel zu entdecken!
Ich setze meine Entdeckerfreude morgen fort - um 16.45 Uhr steigen wir in den Flieger nach Venezuela, wo wir in den nächsten vier Wochen in die Arbeit von El Sistema eintauchen werden. Wir werden mehrere Núcleos besichtigen, bei Unterricht und Proben zuschauen und wohl auch selbst eifrig mitspielen und -arbeiten dürfen. Ich bin schon sehr aufgeregt und freue mich darauf, meine Erlebnisse mit euch zu teilen! Bleibt offen für euch noch unbekannte Musik und neue Unterrichts- und Veranstaltungsformen! :-) Dazu fällt mir gerade noch ein Spruch ein, den ich hier schon häufiger gehört habe und den man auch auf andere Bereiche des Lebens übertragen kann: "Ein Fremder ist ein Freund, den ich noch nicht kennengelernt habe".

P. S. Weitere Fotos findet ihr bei Facebook.



Mittwoch, 2. Oktober 2013

"Teambuilding"

Immer wenn sich eine Gruppe von Menschen trifft, sei es, um zusammenzuarbeiten oder zu lernen, um gemeinsam zu musizieren oder Sport zu machen, ensteht natürlicherweise eine bestimmte Gruppendynamik. Meist kristallisiert sich schon nach kurzer Zeit heraus, wer in der Gruppe welche Rolle einnimmt. Jedes Gruppenmitglied bringt eigene Vorstellungen und kulturelle Prägungen mit und hat eine bestimmte Erwartungshaltung an die Gruppe. Daraus entwickeln sich Umgangsformen und "Spielregeln". Diese werden zum Teil beeinflusst durch Regeln, die der jeweilige Kontext vorgibt (z. B. in der Schule pünktliches Erscheinen, keine Gewalt, Erledigen von Hausaufgaben etc.), darüber hinaus passiert aber vieles im Verborgenen und ohne, dass es je in der Gruppe thematisiert würde.

Nicht anders ist es natürlich bei unserer Gruppe von zehn Fellows. Ich habe diesen Prozess der Gruppenzusammenführung noch nie so bewusst vollzogen wie hier und zugleich finde ich, dass er uns besonders gut gelungen ist. Deshalb möchte ich hier die vier Punkte zusammenfassen, die meiner Ansicht nach für diesen Erfolg verantwortlich sind:

1.) Sensibilisierung: Unsere beiden Leiter Heath und Virginia haben uns von Beginn an für diese Gruppenprozesse sensibilisiert und uns ans Herz gelegt, sehr respektvoll und sorgsam miteinander umzugehen, da wir in den nächsten neun Monaten jeden Tag viele Stunden auf engem Raum miteinander verbringen werden.
2.) Offenheit aller Gruppenmitglieder: Alle Fellows waren von vornherein sehr aufgeschlossen und interessiert. Uns eint natürlich eine gemeinsame Leidenschaft, andererseits haben wir aber alle einen ganz unterschiedlichen akademischen Hintergrund und Erfahrungshorizont aus fünf verschiedenen Kontinenten. Es ist also unvermeidlich, dass wir immer wieder große Unterschiede feststellen. Bisher schaffen wir es sehr gut, damit konstruktiv umzugehen. Zur Offenheit gehört außerdem, dass wir klar sagen, was wir wollen und was uns stört.
3.) "Coaching": Wir hatten nach zwei Wochen einen Workshop mit zwei professionellen Coaches. Dabei haben wir unter anderem über zwei verschiedene Arten des Zuhörens gesprochen und diese geübt. Bei der ersten bezieht man alles, was der andere sagt auf sich selbst und stellt Vergleiche mit seinem eigenen Leben an; bei der anderen versetzt man sich ganz in den anderen hinein und versucht seinen Gedankengang aus dessen Perspektive nachzuvollziehen. Ich fand es ganz hilfreich, mir diese Unterscheidung mal bewusst zu machen. Beide Arten sind gut und wichtig, aber manchmal neigt man dazu, eine überzubetonen und die andere zu vernachlässigen. Noch wichtiger fand ich aber der Teil, in dem wir über unsere Gruppendynamik gesprochen haben und darüber, ob sich jeder in der Gruppe gut aufgehoben und respektiert fühlt. Als Resultat des Workshops haben wir in einem Treffen zu zehnt Vereinbarungen zu unserem Umgang miteinander beschlossen. Klingt nach Selbsthilfegruppe, ist es vielleicht auch, war in jedem Fall sehr fruchtbar!
4.) Gemeinsames Musizieren: Wir haben uns schon mehrfach gegenseitig Lieder und Tänze beigebracht. Voraussichtlich noch in dieser Woche werden wir auch endlich anfangen, Kammermusik zu machen. Gemeinsam schöpferisch tätig zu sein verbindet einfach doch viel stärker als alle Seminararbeit oder Diskussionen!

Ich finde bemerkenswert, wie harmonisch unsere Gruppe funktioniert und bin zuversichtlich, dass das dank der genannten Punkte so bleiben wird. Meinem Eindruck nach, haben sie nicht nur unser Verhalten, sondern auch unsere Einstellung zueinander von Grund auf so positiv beeinflusst, dass wir möglicherweise entstehende Konflikte gut werden meistern können. Ich würde mir wünschen, dass alle Gruppen so bewusst und gut zusammenwachsen könnten. Das würde die Zusammenarbeit von Kindern in der Schule, Studierenden in der Uni, Erwachsenen im Berufsleben usw. wahrscheinlich sehr erleichtern.

In den letzten drei Wochen haben wir viele interessante Musik- und Kunstprojekte in Boston besucht. Auch hier spielte "Teambuilding" eine wichtige Rolle, versuchen doch viele von ihnen, mit künstlerischen Aktivitäten eine starke Gemeinschaft zu schaffen. Wir waren an einem Vormittag in der Boston Arts Academy, einer Highschool von der 9. bis zur 12. Klasse. Die Schüler kommen hierher, nachdem sie eine künstlerische Aufnahmeprüfung für einen der vier Bereiche Tanz, Musik, Bildende Künste oder Theater gemacht haben. Ihre Schulnoten spielen dabei keine Rolle. So vereint die Schule Jugendliche aller sozialen und kulturellen Hintergründe. Die Schüler haben jeden Tag zwei Stunden Unterricht bzw. Proben in ihrem jeweiligen künstlerischen Bereich. Mir hat sehr gut gefallen, dass hier verschiedene Künste zusammengeführt werden und Raum für spartenübergreifende Projekte schaffen. Zwei der anderen Fellows waren an einer ähnlichen Schule in Baltimore, an der man sogar fünf Stunden künstlerischen Unterricht pro Tag hat und nur vier Stunden in den sonstigen Fächern. Ich würde gern mal über einen längeren Zeitraum beobachten, wie sich solche Programme auf das Sozialverhalten der Schüler auswirken und ob die Jugendlichen dadurch tatsächlich teamfähiger, engagierter usw. werden, wie wir uns das erhoffen.

Ein weiteres Highlight war der Besuch von Lorrie Heagy aus Juneau, Alaska. Sie war im ersten Fellows-Jahrgang 2010 und hat danach das Sistema-inspirierte Musikprogramm JAMM an einer Grundschule in Alaska aufgebaut, wofür sie wurde bereits mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt wurde. Sie hat mit uns mehrere Workshops gemacht und wir durften sie in verschiedene Schulen begleiten und beim Unterrichten zugucken.
 Lied zum Kennenlernen der Geige für
Erstklässler (Foto von Eriel Huang)
Lorrie Heagy mit Erstklässlern in der Boston
Bridge Charter School (Foto von Eriel Huang)



 Besonders bewundernswert fand ich, dass sie es geschafft hat, alle Rückmeldungen und Anweisungen positiv zu formulieren. Das wurde mir zwar in vielen Pädagogik-Seminaren als gut verkauft, ich habe aber nie einen Lehrenden gesehen, der das konsequent in die Tat umgesetzt hätte. Anstatt ein Kind zurechtzuweisen, weil es schief und krumm sitzt, lobt Lorrie zum Beispiel ein Kind daneben für seine gute Haltung - und binnen weniger Augenblicke richtet sich das andere Kind wie durch Geisterhand auch auf. Und anstatt zu schimpfen, dass schon wieder so viele Kinder unruhig sind, lobt sie unentwegt diejenigen, die sich ruhig melden und warten, bis sie an der Reihe sind. Ich konnte kaum glauben, wie ruhig und engelsgleich die Kinder in durchweg allen Gruppen dank dieser freundlichen und bestärkenden Pädagogik waren. Gleichzeitig leuchtet es jedem ein, dass man viel eher bereit ist, gut mitzuarbeiten, wenn man gelobt wird, als wenn man ständig getadelt wird.

Zu guter Letzt noch eine ganz spezielle Art des "Teambuildings". Letztes Wochenende bin ich für drei Tage nach Deutschland geflogen, um der standesamtlichen Hochzeit meines lieben Bruders Alexander und seiner Frau Nadja auf einem Gut in der Nähe von Rostock beizuwohnen. Bei herrlichem Wetter haben wir gemeinsam mit meinen Eltern, der Familie von Nadja und meinem kleinen siebenmonatigen Neffen Carlchen zwei wunderschöne Tage verbracht. Die Reise war auch sehr strapaziös und hat mir eine ordentliche Erkältung eingebracht, aber trotzdem habe ich meinen kurzen Heimaturlaub sehr genossen. Ganz nebenbei konnte ich so auch noch einige Packungen Schwarzbrot und Müsli hierher schmuggeln und bin nun noch einige Wochen vor Weißmehlpampe und Cornflakes sicher (wie man sieht, muss ich in puncto Ernährung noch an meiner Offenheit gegenüber dem hiesigen Angebot arbeiten ...). :-)

Bis zum nächsten Mal!
Eure Tatjana