Samstag, 28. Dezember 2013

Educación especial - Menschen mit Behinderung auf der großen Bühne

Wieviele von uns haben im täglichen Leben Kontakt zu Menschen mit Behinderung? Wievele von uns haben schon mit solchen zusammen musiziert? Wie oft empfinden wir nur Mitleid für diese Menschen und wie oft Respekt und Anerkennung? In Deutschland gibt es immer mehr Bemühungen, inklusiv zu sein und schon in den Schulen alle zu integrieren, es gibt viele Behindertenwerkstätten und andere Einrichtungen, in denen diese Menschen ernst genommen werden und eine sinnvolle Beschäftigung finden. Auf musikalischer Ebene gibt es spezialisierte Musiktherapie-Angebote für Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungen. 

Ist aber auch schon mal jemand auf die Idee gekommen, dass Menschen mit Behinderung nicht musikalisch "therapiert" werden müssen, sondern genauso wie alle anderen zusammen lernen und musizieren können? Dass es unter ihnen genauso musikalisch hochbegabte gibt? Vielleicht kenne ich die deutsche Musiklandschaft nicht gut genug, vielleicht tue ich ihr Unrecht, wenn ich sage, dass zu viel therapiert wird und Menschen mit Behinderung nur mit Mitleid begegnet wird. Ich bin in Deutschland zumindest noch keinem begegnet, der mit so viel Ernsthaftigkeit und auf so hohem Niveau mit Menschen mit Behinderung musiziert wie im Programm für "Eduación especial" in Venezuela. Es steht sinnbildlich für die Philosophie von Sistema: Vertraue in die Fähigkeiten des Kindes, arbeite jeden Tag auf hohem künstlerischem Niveau mit ihm und setze auf die starke Gruppendynamik des Ensembles!

Beginn im Konservatorium von Barquisimeto im Jahr 2000
Gesangsquintett Lara Somos
Im Konservatorium von Barquisimeto hat Jhonny Gómez auf Bitte José Antonio Abreus im Jahr 2000 angefangen, spezielle Ensembles für Kinder und Jugendliche mit Behinderung einzurichten. In Venezuela gab und gibt es nur sehr wenige Förderprogramme und spezialisierte Schulen für Blinde, Gehörlose, Kinder mit Down-Syndrom oder Lernschwierigkeiten, Autisten etc.. Die Idee der "Educación Especial" ist, mit diesen Kindern intensiv auf künstlerisch hohem Niveau zu arbeiten, ihnen die medizinische und persönliche Betreung zu bieten, die sie außerhalb nicht bekommen (können) und sie in die Gemeinschaft des Konservatoriums zu integrieren.
Glockenensemble
Die Kinder proben drei- bis fünfmal pro Woche. In den Ensembles singen und spielen oft auch Geschwister, Eltern oder andere Betreuer der Kinder mit. Außerdem gibt es immer mehr Kinder ohne Behinderung, die sich für diese Ensemble anmelden, so dass es inzwischen für die großen Ensembles eine Warteliste gibt. Neben Flöten- und Schlagzeuggruppen gibt es auch mehrere Glockenensemble (hier mit dem Pachelbel Canon). Es gibt mehrere spezialisierte Ärzte, die im Konservatorium nur für diese Kinder da sind. Die Kinder und Jugendlichen mit Behinderungen sind omnipräsent, so dass auch diejenigen, die nicht im direkten Kontakt zu den Spezialensembles stehen, gewohnt sind, mit ihnen umzugehen und sie als selbstverständlichen Teil der Gemeinschaft zu verstehen.

Coro de Manos Blancas
 Als der "Chor der weißen Hände" gegründet wurde, wollte man vor allem den Taubstummen die Möglichkeit geben, Teil eines musikalischen Ensembles werden zu können. So teilte man den Chor in zwei Hälften: die eine Hälfte singt und die andere interpretiert den Text mit weißen Handschuehen in Gebärdensprache. Inzwischen vereint der Chor über 100 Menschen mit diversen Behinderungen sowie einige ohne Behinderung. Der Chor war eines der venezolanischen Ensemble, das bei den Salzburger Festspielen (in der teuersten Preisklasse) aufgetreten ist. Hier ein Video von "El Gavilán" aus dem Festspielhaus und eine Dokumentation über den Chor und seine Reise nach Österreich. Wir waren bei der Präsentation des Chores zu Tränen gerührt - so wie wohl fast alle Besucher vor uns auch. Wir bedankten uns beim Chor mit einem Spiritual, zu dem wir mithilfe einer ehemaligen Chorsängerin, die gerade zu einer medizinischen Behandlung in Boston weilt, die Gebärden gelernt hatten. Als wir fertig waren, sahen wir, dass nun die Choristen Tränen in den Augen hatten. Es war ein großartiger Moment des Mitgefühls und der gegenseitigen Anerkennung und Dankbarkeit.
Programmheft mit Brailleschrift

Lara Somos und Braille-Werkstatt
Fünf Mitglieder des Chores singen seit einigen Jahren in einem Quintett zusammen. Wir haben unter anderem Guantanamera von ihnen gehört. Einer der blinden Tenöre, Gustavo Flores, komponiert und arrangiert auch für das Ensemble. Er hat uns außerdem die Braille-Werkstatt gezeigt, in dem Noten und musiktheoretische Schriften sowie Programmhefte in Braille umgeschrieben und gedruckt werden. Das System wurde in Spanien entwickelt, aber in Barquisimeto wurde es erstmals im großen Stile angewendet, um mit Blinden zu musizieren. 
 
Ausweitung auf andere Landesteile: Mérida
Lehrerin Maria Guadalupe mit Schüler
Nachdem das Projekt in Barquisimeto auf so große Resonanz gestoßen ist, hat man auch in vielen anderen Teilen des Landes angefangen, Programma der "Educación especial" aufzubauen. Auf unserer zweiten Station in Mérida, einer kleinen Stadt in den venezolanischen Anden haben wir ebenfalls einen Coro de Manos Blancas zu Gehör bekommen und zahlreiche Schlagzeugensemble und eine Geigengruppe. In meinem ersten Blogeintrag habe ich bereits von Omar berichtet, der uns noch bevor die Präsentation losging, seine Visitenkarten in die Hand drückte. Die Leiterin des Programms dort hat mit so viel Bewunderung von ihren Schützlingen gesprochen und das künstlerische Ergebnis war so beeindruckend, dass ich am liebsten gleich eine ähnliche Initiative in Peru starten würde. Sie bildet gerade zwei ihrer Schülerinnen, eine mit Down-Syndrom und eine Taubstumme, zu Ensembleleiterinnen aus, damit sie zukünftig mit noch mehr Kindern arbeiten kann. Eines der Highlights war das fortgeschrittene Percussionensemble mit Oye como va!




































Sonntag, 22. Dezember 2013

Die Entwicklung von El Sistema seit 1975

Bevor ich von den vielen Núcleo-Besichtigungen und den einzelnen Aspekten von El Sistema berichte, möchre ich hier erstmal einen Überblick über dessen Entwicklung seit der Gründung 1975 geben. Die Informationen stammen u. a. aus Gesprächen mit Rodrigo Guerrero, Vizedirektor der Fundación Musical Simón Bolívar und verantwortlich für Internationale Beziehungen (und damit auch für unsere Gruppe während unseres Aufenthaltes), und Eduardo Méndez, dem Geschäftsführer der Fundamusical, sowie von der spanischsprachigen Homepage.

Abreus Vision
1975 gab es in Venezuela nur zwei professionelle Symphonieorchester: das Nationale Symphonieorchester in Caracas und das Symphonieorchester von Maracaibo. So hatte nur eine kleine Minderheit der Venezolaner Zugang zu klassischer Musik. Der Musiker, Ökonom und Politiker José Antonio Abreu hatte die Vision, ein hochklassiges Jugendorchester zu gründen, dessen Mitglieder Kinder und Jugendliche im ganzen Land unterrichten sollten. Die erste Probe fand an einem Samstagnachmittag mit einigen wenigen fortgeschrittenen jungen Musikern im Conservatorio Nacional de Música Juan José Landaeta in Caracas statt. Bereits bei der ersten Probe prophezeite Abreu den Musikern, dass sie bald ein Weltklasseorchester bilden und für die Deutsche Grammophon CDs einspielen würden.
Innerhalb kurzer Zeit schlossen sich weitere Musiker dem Orchester an. Einige von ihnen begannen daraufhin in ihren Heimatstädten Barquisimeto, Maracay und Valencia zu unterrichten. 1977 fand erstmals ein großes Sommercamp mit mehreren hundert Jugendlichen statt, zudem u. a. das Portland String Quartet als Dozenten eingeladen wurden. 
 “Music has to be recognized as an agent of social development in the highest sense, because it transmits the highest values – solidarity, harmony, mutual compassion.”(Maestro Abreu)

Langsames Wachstum
1978 wurde das Orchester in Orquesta Sinfónica Simón Bolívar (OSSBV) de Venezuela umbenannt. 1979 wurde die Stiftung FESNOJIV (seit 2011 Fundación Musical Simón Bolívar) gegründet, die im wesentlichen vom venezolanischen Staat finanziert wird und die ganze Arbeit von El Sistema verwaltet und koordiniert.
In den 80ern und 90ern wuchs das Programm langsam aber stetig - zunächst in den größeren Städten und zunehmend auch in den ländlicheren Gebieten. Abreu war während dieser Zeit nicht nur künstlerischer und organisatorischer Leiter, sondern auch weiter in der Politik aktiv und u. a. mehrere Jahre lang Kulturminister.
Seit 1982 hat El Sistema eine eigene Geigenbauschule. 1991 wurde die Academia Latinoamericana de Violín gegründet. Die Akademie bietet den besten Geiger Venezuelas und anderer lateinamerikanischer Länder Zugang zu hochklassigem Unterricht. Außerdem werden internationale Meisterkurse und Festivals veranstaltet. Seitdem sind Akademien für die Instrumente Cello, Klarinette, Querflöte, Trompete, Klavier und Kontrabass mit einem ähnlichen Angebot dazugekommen.  
"Die materielle Armut wird durch geistigen Reichtum überwunden." (Maestro Abreu)

Internationale Anerkennung und Erfolge
1995 wurde das nationale Kinderorchester gegründet, das im gleichen Jahr auf seine erste internationale Tournee ging. 2001 wurde dieses Orchester in Simón Bolívar Youth Orchestra (SBYO) umbenannt, weil die Mitglieder inzwischen dem Kindesalter entwachsen waren. 
Das "alte" Simón Bolívar Orchester reiste 2000 zur Expo nach Hannover. Sir Simon Rattle hörte das Orchester bei dieser Gelegenheit und war tief beeindruckt. Aus dieser Begegnung erwuchs eine intensive Partnerschaft nicht nur mit Rattle, sondern auch mit seinem Orchester, den Berliner Philharmonikern. Zahlreiche Mitglieder des Orchesters reisen seitdem regelmäßig zum Unterrichten nach Venezuela und Rattle hat die verschiedenen Orchester mehrfach im In- und Ausland dirigiert.
Daniel Stabrawa, Konzertmeister der Berliner Philharmoniker mit Gustavo Dudamel - abfotografiert im Bürogebäude der Fundamusical
Die beiden berühmtesten Musiker, die bisher aus El Sistema hervorgegangen sind, wurden 2003 und 2004 einem breiteren Publikum bekannt: Zuerst wurde der Kontrabassist Edicson Ruiz mit 17 Jahren das jüngste und das erste hispanoamerikanische Mitglied der Berliner Philharmoniker und dann gewann Gustavo Dudamel mit 23 Jahren den renommierten Gustav-Mahler-Dirigierwettbewerb. Besonders letzterer hat zur Popularität von El Sistema weltweit beigetragen. Er wurde von allen großen Orchestern eingeladen und ist seit 2009 Chefdirigent des Symphonieorchesters von Los Angeles. Sowohl Ruiz als auch Dudamel stammen aus einfachen Verhältnissen und haben es ohne die traditionelle akademische Ausbildung an die Spitze der klassischen Musikszene geschafft. Das hat viele neugierig werden lassen.
So wurde 2006 der Dokumentarfilm "Tocar y Luchar" veröffentlicht, der zeigt, wie unter diesem seit 1976 verwendeten Motto hunderttausende Kinder und Jugendliche in Venezuela in Orchestern und Chören zusammenkommen und so dem Teufelskreis von Armut, Perspektivlosigkeit und Gewalt entkommen. Ein weiteres Zeichen internationaler Anerkennung war die Einladung des SBYO zu den BBC Proms 2007. Im gleichen Jahr wurde das Teresa Carreño Jugendorchester gegründet, das ebenfalls jedes Jahr auf Konzerttournee geht. Ebenfalls in diesen Zeitraum fällt die Eröffnung des Centro de Acción Social in Caracas, indem auf acht Stockwerken mehrere hochmoderne Konzert- und Probensäle, Unterrichtsräume, eine Bibliothek, Audio- und Videoarchiv u. a. untergebracht sind. 
Im Sommer 2013 wurden sieben Ensembles von El Sistema - insgesamt rund 1.400 junge Musiker - zu den Salzburger Festspielen eingeladen. Das Kinderorchester spielte dort unter Simon Rattles Leitung u. a. Mahlers 1. Symphonie und Bernsteins Mambo.
"Chor und Orchester bilden eine Gemeinschaft, die sich ständig aufeinander abstimmt: Mehr noch als eine künstlerische Einrichtung sind sie ein Vorbild, ein Spiegel und eine unübertreffliche Schule des gesellschaftlichen Lebens." (Maestro Abreu)

Ausblick auf die Entwicklung der nächsten Jahre
Nach dem rapiden Wachstum der letzten Jahre wurde in Abstimmung mit der venezolanischen Regierung der Plan Simón Bolívar verabschiedet: Bis 2019 sollen eine Million Kinder und Jugendliche in den Núcleos kostenlosen Unterricht bekommen. Man hat bereits angefangen, diesen ehrgeizigen Plan umzusetzen, indem Lehrer in Schulen im ganzen Land geschickt werden und dort zunächst Chor, Cuatro (die einheimische viersaitige Gitarre) und Grundlagen der Musiktheorie unterrichten. Nach und nach sollen die Kinder dann auch Instrumente lernen und in die Orchester und Chöre der Núcleos kommen.
Modell der Ciudad Bolívar: In der Mitte das Centro de Acción Social, links das neue Lehrerzentrum und rechts das neue Gebäude für Konzerte, Proben und Unterricht.
Bis 2019 soll außerdem die Ciudad Simón Bolívar fertig gestellt werden: neben dem Centro de Acción Social werden momentan zwei weitere Gebäude gebaut, in dem ein Zentrum für Lehrerbildung entstehen wird sowie diverse weitere Unterrichts- und Probenräume sowie Konzertsäle. Außerdem gibt es bereits ein Planungsteam für eine eigene Musikuniversität, damit diejenigen, die Profimusiker werden möchten auch Zugang zu einer akademischen Ausbildung im eigenen Land bekommen.
Auch in anderen Städten ist der Bau von neuen Musikzentren und Konzertsälen geplant. Vor kurzem wurde bekannt gegeben, dass Frank Gehry, Architekt der Walt Disney Hall in Los Angeles, den Konzertsaal Dudamel in Barquisimeto bauen wird.

Anmerkungen und weiterführende Links
Bisher war es schwierig, verlässliche Auskunft darüber zu bekommen, wieviele Kinder und Jugendliche im Rahmen von El Sistema Unterricht bekommen. Deshalb kursieren in diversen Artikeln und Berichten viele verschiedene Zahlen. In den letzten Jahren hat sich die Fundamusical deshalb verstärkt um Evaluation bemüht. Eine erste Studie der Inter American Development Bank wurde bereits veröffentlicht. Außerdem wird in Kürze eine Langzeitstudieder der gleichen Bank fertig gestellt, die die Auswirkungen von El Sistema auf über 200 teilnehmende Kinder und ihre Familien systematisch untersucht hat. 
Treffen mit José Antonio Abreu in Caracas
Es gab bereits mehrere Versuche eine Biographie über José Antonio Abreu zu schreiben, denn wo immer man hinkommt, trifft man auf einen enormen Respekt und Bewunderung seiner Person. Es ist offensichtlich, dass El Sistema ohne ihn undenkbar wäre. Er wehrt alle Fragen zu seiner eigenen Person ab. Für ihn stehen die Kinder und das Projekt im Mittelpunkt und so soll es auch die Öffentlichkeit wahrnehmen. Ich werde in einem weiteren Blog-Eintrag noch näher auf seine Person eingehen, so wie ich ihn erlebt habe und wie mir über ihn berichtet wurde. Einen sehr umfassenden Einblick in seine Philosophie gibt seine Rede von den Salzburger Festspielen
Für weitere Informationen zu El Sistema kann ich die Homepage des ehemaligen Fellows Jonathan Govias empfehlen. Dort hat er u. a. seine Übersicht zu den fünf Grundprinzipien von El Sistema veröffentlicht.
 "We no longer put society at the service of art, but instead, art at the service of society, at the service of the weakest, at the service of the children.” (Maestro Abreu)

Montag, 9. Dezember 2013

Tocar y Luchar

 „El Sistema“ – diese Worte sind seit rund 10 Jahren im Munde von Musikern und Musikpädagogen weltweit. Was aber macht El Sistema so besonders? Warum gerade in Venezuela? Wie konnte diese Bewegung in 38 Jahren so groß werden und Musiker auf der ganzen Welt inspirieren?

Kinderorchester im Konservatorium in Barquisimeto
Ich hatte die großartige Gelegenheit, vier Wochen lang teilzuhaben und hautnah zu erleben, was es für die rund 468.000 Kinder und Jugendlichen hier heißt, zu „spielen und zu kämpfen“ (tocar y luchar). Ich habe Núcleos in Caracas, in der Musik-Hauptstadt des Landes Barquisimeto und in der Andenstadt Mérida kennengelernt, ich habe bei Unterricht hospitiert und selbst Einzel- und Kammermusikunterricht gegeben, ich habe in Orchestern mitgespielt, in Chören gesungen und Konzerte besucht, ich habe wundervolle und warmherzige Menschen getroffen, ich habe gelacht, getanzt und geweint. Wie kann ich all das zusammenfassen?

José Omar, 21, Schlagzeuger und Dirigent aus Mérida
Es ist tatsächlich überwältigend, was Maestro José Antonio Abreu hier aufgebaut hat! Er hat einen unerschütterlichen Glauben in die Fähigkeiten und Stärken der Menschen und man bekommt den Eindruck, dass er diesen auf all seine Mitarbeiter, auf die 285 Núcleo-Leiter und die Erwachsenen und Kinder im Projekt übertragen hat. Wie sonst kann man erklären, dass die 16-Jährige Alexandra aus einem kleinen Andendorf ohne sauberes Leitungswasser jeden Tag vier bis fünf Stunden Fahrtzeit in Kauf nimmt, um nach der Schule zur Orchesterprobe nach Mérida zu kommen und samstags zusätzlich weitere drei Stunden in einen anderen noch weiter entfernt gelegenen Núcleo fährt, um zu unterrichten? Wo stellt sich einem ein geistig behinderter 21-Jähriger namens José Omar als Dirigent vor und drückt einem als erstes seine Visitenkarte in die Hand? Wie oft haben Leute viel Geld dafür bezahlt, um Kinder und Jugendliche aus einem „Dritten-Welt-Land“ im Konzert zu erleben und anschließend minutenlang mit Standing Ovations bedacht? – so geschehen bei den 14 Konzerten der Salzburger Festspiele mit insgesamt 1400 Venezolanern in diesem Jahr!

Überall auf der Welt gibt es Beispiele von Menschen, die scheinbar über sich hinausgewachsen sind, weil jemand anderes an sie geglaubt und sie ermutigt hat. Überall gibt es Geschichten von solchen, die sich aus schwierigen Verhältnissen emporgearbeitet haben. Die Masse von solchen Beispielen in Venezuela und die Rolle der Musik dabei sind aber einzigartig. Dabei waren und sind die Umstände alles andere als ideal: 1975 gab es nur zwei professionelle Symphonieorchester im Land und dementsprechend eine extrem geringe Zahl qualifizierter klassischer Musiker und Musiklehrer. Heute steht das Land vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Trotz eines des größten Ölvorkommens der Welt schafft es die Politik nicht, Korruption, Kriminalität und Versorgungsengpässe zu überwinden. 

Nichts ist unmöglich: Unterricht unter freiem Himmel auf dem Marktplatz von Santa Rosa, Lara.
El Sistema ist alles andere als perfekt. Überall gibt es Probleme und oft muss improvisiert werden, um aus geringen finanziellen Ressourcen, das Beste zu machen. Und doch lechzen die Leute danach, Teil dessen zu sein. Gemeinden bitten ihre Bürgermeister, einen Núcleo im Ort zu eröffnen und Eltern gestalten ihren Arbeitsalltag so um, dass sie ihre Kinder nachmittags zum Musikunterricht bringen können. Sie erkennen, wieviel mehr ihre Kinder davon haben, gemeinsam im Orchester zu spielen als vor dem Fernseher oder PC zu sitzen oder gar in Drogen- und Bandenmachenschaften verwickelt zu werden. Trotzdem ist es keine Beschäftigungstherapie. Die Vielfalt an Gruppierungen und das hohe Niveau waren zwei der Dinge, die mich am meisten beeindruckt haben:

Querflötenorchester in Barquisimeto, Clara Yang dirigiert
Vielfalt: Neben den allseits bekannten Orchester habe ich auch Streichquartette gesehen, sowie Blechbläsergruppen, Barockensemble, Schlagzeugensemble, Folkloregruppen mit einheimischen Instrumenten, Chöre mit einem Repertoire von Renaissance bis zu zeitgenössischen venezolanischen Komponisten, Rockorchester mit Beatles-Programm, Querflötenorchester, Klarinettenorchester uvm.. Ich habe auch einige wenige Solisten gehört, aber im Allgemeinen stehen immer die Gruppe und das Ensemble im Mittelpunkt.



Simón Bolívar Orquesta B im großen Saal des Centro de Acción in Caracas
Qualität: Venezolaner sind musikalisch nicht begabter als Menschen anderswo, aber wenn man von klein auf 15 oder 20 Stunden pro Woche Musik macht, kommen dabei viele sehr gute Musiker heraus, wobei die meisten nicht professionelle Musiker werden, sondern Medizin, Jura, Ingenieurswesen usw. studieren. Die großen Orchester Simón Bolívar und Teresa Carreño sind bekannt dafür, Tschaikowsky und Mahler mit viel Leidenschaft auf hohem Niveau spielen zu können. Von daher hat es mich weniger überrascht, dass Kinderorchester deren Beispielen nacheifern und bereits sehr früh Tschaikowsky 4. Sinfonie oder Dvoraks 9. Sinfonie spielen können. Womit ich allerdings nicht gerechnet hatte war, von Teenagern unglaublich differenzierte und fein artikulierte Haydn- oder Schubertquartette vorgetragen zu bekommen. In allen Bereichen gab es Ensembles mit derart hohem Niveau, dass ich nur staunend und fassungslos dasitzen konnte.

Dass all das möglich geworden ist, ist kein Wunder. Es ist das Resultat harter Arbeit. So viele Menschen arbeiten daran mit. Fast alle in der Administration haben selbst in El Sistema Musik gelernt, sie haben selbst gekämpft und die Kraft der Musik am eigenen Leib erfahren. Sie sind nun bereit, alles dafür zu geben, anderen Kindern die gleichen Möglichkeiten zu geben. Ich habe viele getroffen, die im Ausland studiert haben, viele haben aber einfach vor Ort so viel gelernt, dass sie ohne Universitätsabschluss oder offizielles Musikstudium sehr gute Arbeit leisten können. Und natürlich sind es vor allem die Kinder, die bereit sind, so viel Zeit und Energie in die Musik zu investieren und ihren Idolen in den großen Orchestern und Chören nachzueifern.

Trompeten in einem der unzähligen fortgeschrittenen Kinderorchester.
In den nächsten Tagen werde ich detaillierter von den einzelnen Projektteilen berichten. Für mich ist nun eine zentrale Frage, inwiefern Musiker und Musikpädagogen aus anderen Ländern davon lernen können – naturgemäß interessieren mich besonders Peru und Deutschland. Ich weiß, dass man dieses Modell nicht einfach kopieren oder replizieren kann. In jedem Land herrschen andere soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen und es gibt große Mentalitätsunterschiede. In Deutschland etwa haben wir bereits so viele existierende Strukturen und eine reiche Musikkultur. Ich denke aber, es lohnt sich, darüber zu reflektieren, welchen Stellenwert wir der individuellen künstlerischen Entwicklung und der technischen Perfektion zusprechen und welches Gewicht wir der Musik als gemeinschaftsstiftendes Mittel einräumen. Die Kinder hier kommen nicht zu den Núcleos, weil sie hoffen, ihre Geigentechnik zu perfektionieren, sie kommen, weil das der Ort ist, wo all ihre Freunde sind und wo sie als Einzelner in der Gruppe aufgehen und mit der Gruppe hochklassige künstlerische Resultate erzielen.