Seit dem letzten Blogeintrag sind schon einige Wochen
vergangen. Inzwischen war ich mit den Fellows eine Woche in Chicago, wo wir an
der Conference for Community Arts Education teilgenommen haben und natürlich
auch ein bisschen Zeit für Sightseeing in dieser architektonisch faszinierenden
Stadt am Lake Michigan hatten. Außerdem haben wir uns viele weitere
inspirierende Musik- und Kunstprojekte in und um Boston angeschaut. Abgesehen davon nehme ich im Moment besonders
viel aus dem Public Speeching-Seminar mit dem Hochschulpräsidenten Tony
Woodcock mit, sowie aus den Strategic Planning-Stunden mit einem
„Unternehmensberater“ für Kultureinrichtungen. Im Rahmen dieses Kurses
erarbeiten wir im Laufe des Jahres einen Plan für einen möglichen „Núcleo“ (so
werden Sistema-Projekte genannt). Einige Fellows haben vor, nach diesem Jahr,
ein neues Projekt zu starten. Ich möchte nach Peru gehen und überlege daher,
wie man die Arbeit von Arpegio verbessern könnte. Einige Elemente unseres
Núcleo-Plans sind Mission, Vision, Werte, Zielgruppe, pädagogisches Konzept,
Finanzierung und Evaluationsmöglichkeiten.
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Chicago vom Wasser aus |
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Mein Lieblingshochhaus: das 262m hohe "Aqua", gebaut von einer weiblichen Architektin! |
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Pumpkin Carving Party kurz vor Halloween |
Heute möchte ich aber vor allem über meine Eindrücke vom
hiesigen Musikleben berichten.
Ich war schon vier- oder fünfmal bei Konzerten des Boston
Symphony Orchestra (BSO). Das Orchester gehört zweifellos zu den
Spitzenorchestern in den USA und auf der Welt, aber so richtig vom Hocker
gerissen hat mich keines der Konzerte. Ich habe das zunächst darauf zurückgeführt,
dass ich schlechte Plätze hatte – das ist in der Symphony Hall kein Kunststück;
der Saal schaut zwar sehr prächtig
aus, aber egal, wo man im Parkett sitzt, sieht man nur die erste Reihe der
Musiker, weil es keine Podeste für die hinteren Spieler gibt. Im hinteren Bereich des Parketts ist der
Genuss auch noch akustisch eingeschränkt, weil man dann den Balkon über
sich hat. Beim letzten Konzert saß ich aber ganz vorne im ersten Rang und
konnte nun aus der Nähe das wahrscheinlich eigentliche Übel begutachten – die Musiker sitzen
auf ihren Stühlen wie angegossen. Selbst die Stimmführer und Solobläser bewegen
sich fast gar nicht. Gerüchteweise habe ich gehört, dass in den Verträgen der
Musiker steht, dass sie sich nicht bewegen dürfen... Aber schlimmer als das fand
ich an besagtem Abend, dass die Musiker dermaßen gelangweilt dreingeschaut
haben – und das bei Mahlers „Lied von
der Erde“ unter Daniel Harding! Ich habe schon von vielen Musikern hier gehört,
dass sie das Orchester nicht mögen, weil sie sehr konservative Programme haben
und unmotiviert spielen würden; da ich die technische Qualität und den Klang
(besonders vom Blech!) bei den ersten Konzerten aber ziemlich toll fand, bin
ich trotzdem weiter in die Konzerte gegangen, aber dieser Abend hat mir den
Rest gegeben. Das war der Inbegriff von steifem und unpersönlichem klassischen Symphoniekonzert
ohne Leidenschaft und Esprit.
Das New England Conservatory (NEC) wirbt einerseits damit, einen
Großteil der Nachwuchsmusiker für das BSO auszubilden und bewegt sich damit
ganz auf den traditionellen Konservatoriumspfaden, andererseits gibt es aber
auch ein großes Jazz-Department und ein kleineres für „Contemporary
Improvisation“. Außerdem gibt es ein großes Angebot im Bereich „entrepreneurial
musicianship“. Zwei Konzerte, die ich in den letzten Wochen besucht habe, und
dich mich sehr viel mehr berührt haben als die Symphoniekonzerte, sind dafür
repräsentativ:
Das erste war ein Hauskonzert bei einem venezolanischen Cellisten, der sich ein paar Tage zuvor mit uns getroffen hatte, um uns seine sehr
bewegende Lebensgeschichte zu erzählen. Er hat zusammen mit seiner Frau, einer
halb indisch halb japanischen Sängerin, und einer weiteren US-amerikanischen
Sängerin (alle drei NEC-Alumni) ein Trio (Voci Angelica Trio) gebildet, das Volksmusik aus aller
Welt aufführt. Dabei singen meistens die beiden Damen und alle drei begleiten
mit allen möglichen Schlag- und Zupfinstrumenten sowie Cello. In ihren Moderationen stellen sie
Verbindungen zwischen den verschiedenen Kulturen und ihren Traditionen und
Geschichten her und erzählen von ihren persönlichen Verbindungen mit den
Stücken. Die musikalische Darbietung war auf höchstem Niveau und der ganze
Rahmen als Hauskonzert mit Essen und Trinken war sehr einladend und familiär.
Das zweite war ein Abend mit einem ganz tollen Geiger, Studenten von
Donald Weilerstein, und dessen Klavierbegleiter mit rein französischen
Programm. Der Geiger hatte dafür ein Programmheft erstellt, in dem er
hervorragende, selbst geschriebene Einführungstexte zu den Stücken mit Werken
französischer Maler kombinierte. Obwohl ich nicht mit dem Geiger gesprochen
habe, hatte ich das Gefühl, eine persönliche Verbindung mit ihm herzustellen –
seine Beziehung zu den Stücken und den Prozess des Erarbeitens sowie seine
Gedanken über den Rahmen dieser Stücke hinaus. Ich saß nicht mit kritischem Ohr
da (was macht er falsch, wie ist seine Technik, wie ist seine Intonation,
spielt er musikalisch, ...) – all die Dinge mit denen wir im
Instrumentalunterricht aufgewachsen sind – sondern ich fühlte mit ihm die
Begeisterung für diese Stücke, die er im Programmheft zum Ausdruck gebracht
hatte. Warum ist uns Musik so wichtig? Weil wir uns mit ihr ausdrücken können.
Musikmachen ist emotional und persönlich. Aber gerade die persönliche
Komponente geht im klassischen Musikbetrieb meiner Ansicht nach allzuoft unter.
Es geht darum, diesen genialen Komponisten gerecht zu werden und damit ist man
meistens zum Scheitern verurteilt. Dieser Geiger hat an diesem Abend
auch phänomenal
gespielt, aber selbst wenn nicht, hätte ich es ihm nachgesehen, weil er sich
im Vorfeld viele Stunden Zeit genommen hat, um seine Gedanken und Gefühle
zu den Stücken
aufzuschreiben und mit dem Publikum zu teilen.
Das einzige reguläre Seminar, das ich hier am NEC besuche
und das nicht exklusiv für uns Fellows ist, ist eines über die Geschichte klassischer
Musik in Lateinamerika seit Beginn der Kolonialisierung. Der Dozent ist ein
deutsch-venezolanischer Musikwissenschaftler und Gitarrist. In diesem Semester
haben wir uns mit der Entwicklung in den verschiedenen Regionen bis ins 19.
Jahrhundert beschäftigt. Ich wusste zwar aus Begegnungen mit zwei bolivianischen
Barockensemblen aus ehemaligen Jesuitenzentren, dass klassische Musik nicht
erst im letzten Jahrhundert in Lateinamerika gelandet ist, aber ich war dann
doch ziemlich platt angesichts der Vielfalt von klassischen Komponisten und der
Qualität
ihrer Kompositionen. In allen lateinamerikanischen Ländern
gab es Orchester und Kompositionsschulen. Einige Stücke ähneln denen zeitgenössischer europäischer Komponisten, andere sind eine Kombination aus europäischer Tradition kombiniert mit einheimischen Elementen. Hier einige meiner Favoriten bzw.:
- Hanac Pachap Cussicuinin von Juan Pérez de Bocanegra (?1598-1631). Vierstimmiger Chorsatz aus Peru in Quechua.
- ¡Aquí, Valentónes! o ¡Aquí, Valentones! von Juan de Araujo (1648-1712), Kapellmeister in Sucre, Bolivien, Orchester (inkl. lokaler Percussion) plus Chor.
- Credo Patrem Omnipotentem von Ignacio Parreiras Neves (1736-1794), barocke Kantate aus Brasilien.
- Variationen über ein Thema des Jarabe Mexicano von José Antonio Gómez (1805-1870), arrangiert und gespielt von Cyprien Katsaris
- Il Guarany (1870) von Antônio Carlos Gomes (1836-1896), brasilianische Oper.
- El diablo suelto von Heraclio Fernández Noya (1851-1886), venezolanischer Walzer, hier mit Cuatro, Kontrabass, Schlagzeug und Geige.
- Kleiner Walzer "Mi Teresita" von Teresa Carreño (1853-1917), gespielt von ihr selber (Welte Mignon).
Wie ihr seht, gibt es abseits des Standardrepertoires noch viel zu entdecken!
Ich setze meine Entdeckerfreude morgen fort - um 16.45 Uhr steigen wir in den Flieger nach Venezuela, wo wir in den nächsten vier Wochen in die Arbeit von El Sistema eintauchen werden. Wir werden mehrere Núcleos besichtigen, bei Unterricht und Proben zuschauen und wohl auch selbst eifrig mitspielen und -arbeiten dürfen. Ich bin schon sehr aufgeregt und freue mich darauf, meine Erlebnisse mit euch zu teilen! Bleibt offen für euch noch unbekannte Musik und neue Unterrichts- und Veranstaltungsformen! :-) Dazu fällt mir gerade noch ein Spruch ein, den ich hier schon häufiger gehört habe und den man auch auf andere Bereiche des Lebens übertragen kann: "Ein Fremder ist ein Freund, den ich noch nicht kennengelernt habe".
P. S. Weitere Fotos findet ihr bei Facebook.